15.12.2013, Ich traf die Mutter, deren Tocher vergewaltigt und ermordet wurde...

Bild am Sonntag

Immer wieder laufen die Tränen. Nirbayas Mutter Asha Devi (46) kann nichts vergessen. Der grausame Tod ihrer geliebten Tochter ist auch ein Jahr nach der Massenvergewaltigung in einem Bus in Delhi für sie der größte Schmerz.

Wir besuchen sie und ihren Mann in ihrer neuen Wohnung. Sie sind in ein Apartmenthaus in einem Vorort umgezogen „damit es leichter wird“, wie mir Vater Badri Singh (53) sagt. Aber – nichts wird leichter.

Jetzt kommen die schlimmen Bilder wieder hoch

Gerade jetzt kommen die grausamen Bilder wieder hoch. Morgen, am 16. Dezember, ist der 1. Jahrestag der Tat. Die Zeitungen schreiben so viel über Nirbaya – so wird die 23jährige Studentin von den Medien genannt, da ihr richtiger Name aus juristischen Gründen nicht veröffentlicht werden darf.

13 Tage , so erzählt mir die Mutter, saß sie in Singapur im Mount-Elisabeth-Hospital am Bett ihrer Tochter. Bevor Nirbaya an ihren schweren inneren Verletzungen und nach vielen Operationen starb, flüsterte sie noch: „Rette mich, ich will leben“.

Meine Frau leidet so schrecklich

Der Vater führt uns in den Wohnraum. Es ist karg hier. Helle Plastikstühle, kleine Bambuspflanzen auf dem schwarzen Couchtisch. „Alles ist wie ein schrecklicher Sturm über uns gekommen,“ beginnt der Vater stockend. Er sieht mich nicht an. Seine Frau lehnt draußen im Gang an der Wand, als ob sie nicht hierher gehören würde. „Ich komme schon eher zurecht“, erzählt er weiter. Sein Job am Flughafen hilft ihm, die Kollegen, die Pflichten. „Aber meine Frau leidet so schrecklich, ich kann das kaum mit ansehen“.

Seit der Gruppenvergewaltigung steht ein Land unter Schock. Wochenlang demonstrierten Männer und Frauen gegen die weiter ansteigenden Vergewaltigungen . Die Polizeistatistik ist erschütternd. In einem Jahr ist die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen allein in Delhi von 706 auf 1450 gestiegen.

So schnell hat die Polizei bisher noch nie reagiert

Aber immerhin waren die Beamten im Fall Nirbaya so schnell wie nie zuvor: Innerhalb 15 Tagen konnten sie die Täter fassen. Nach neun Monaten kam es zum Prozess. Vier der sechs Täter sprach der Richter in allen Punkten schuldig: Kidnapping, Gruppenvergewaltigung und kaltblütiger Mord. Die Strafe: Tod durch Hängen. Die Inder jubelten und zogen wieder mit Bannern durch die Straßen. Ein fünfter Täter kam bereits in der Haft ums Leben. Ob er Selbstmord begangen hat oder ermordet wurde wird noch untersucht. Der sechste, der 17-jährige Fahrer des Busses, muss auf Grund seines Alters nach Jugendstrafrecht nur drei Jahre ins Gefängnis. Dabei soll er der eigentliche Anführer gewesen sein.

Die Eltern sind zwar froh über die Todesurteile. „Wir sind glücklich, endlich gibt es für unsere Tochter Gerechtigkeit“, erklärte der Vater nach der Urteilsverkündung. Die Mutter sagt: “Ich kann endlich wieder atmen, ich bin erleichtert“. Aber beide sind empört über die Jugendstrafe für den Fahrer. Da geht es den Eltern weiter um Vergeltung. Sie wollen in Berufung gehen gegen das aus seiner Sicht zu harmlose Urteil gegen den Jüngsten der sechs Täter.

Sie war in der Schule die Beste

Inzwischen sitzt die Mutter mit starrem Gesicht neben ihren Mann. Immer mehr Journalisten drängen plötzlich herein. Mit Kameras, Fotoapparaten, Lichtkoffern, Blöcken und Stiften. Die Eltern haben sich für diesen Tag zu einer Presseoffensive entschlossen. Nirbaya macht das nicht mehr lebendig. Der Vater sagt: „Wir haben für unsere Tochter Land verkauft, damit sie eine gute Ausbildung machen konnte. Sie war eine beliebte und erfolgreiche Physiotherapeutin. Hatte einen netten Freund. War in der Schule immer die Beste. Nur ein einziges Mal auf dem zweiten Platz!“ Er schüttelt fassungslos den Kopf. Fassungslos, dass das alles seine geliebte Tochter nicht gerettet hat.

Zusammen mit Freunden und Rechtsanwälten haben die Eltern einen Trust gegründet. Auf den Namen der Tochter. Das alles und das Berufungs-Verfahren halten den Vater aufrecht. Aber die Mutter sieht verzweifelt und hoffnungslos ins Leere.

Am Jahrestag gibt es eine große Messe

Inzwischen haben die Politiker auf den Druck der Bürger reagiert. Noch nie ist so schnell ein Gesetz verabschiedet worden: ein Gesetz zur Verurteilung häuslicher Gewalt. Außerdem hat die Polizei Leitlinien für ihre Polizeibeamten erlassen, wie sie sich bei der Anzeige einer Vergewaltigung zu verhalten haben: Sie sollen jetzt ausschließlich der Frau zuhören, ohne Kommentare abzugeben. Sollte ein Beamter sich dennoch nicht richtig verhalten, darf die Frau sich bei seinem Vorgesetzten beschweren. Es gibt außerdem eine Notrufnummer für Frauen bei der Polizei. Die seit dem Tod von Nirbaya so häufig angerufen wird wie nie zuvor.

Nirbayas Eltern und ihre beiden Brüder werden morgen mit Freunden, Verwandten und vielen Indern eine große Messe für die Tote abhalten. Tausende wollen wieder auf die Straße gehen.

Sie entzündete eine Flamme für ein sicheres Indien

Seit der Bus-Vergewaltigung ersheint in der "Hindustan Times" eine Serie: „She lit a flame for a safer India“ – sie enzündete eine Flamme für ein sichereres Indien. Denn das Land hat seit langem ein strukturelles Problem. Nicht nur dass die Zahl der angezeigten Gewalttaten Monat für Monat weiter ansteigt. Die Dunkelziffer soll nach Angaben von Experten zehn Mal mehr Fälle verbergen. Nein – in Indien wird die Mehrheit der Frauen und Töchter menschenverachtend behandelt. Das ist das große Drama. BILD am SONNTAG wird weiter berichten.