02.12.2013, Indien

2. Tag

Ganz schnell gewöhne ich mich an das indische Kopfschütteln. Das geht so: von links nach rechts und dann ein wenig nach unten. Du weiß nie, heißt es ja, oder nein? Ich interpretiere es als: vielleicht. Ein klares Ja oder Nein verbietet sich ja auch, denn dann verliert der andere sein Gesicht. Und das geht gar nicht....

Eingeschlafen bin ich erst in den Morgenstunden, da ist es bei uns Mitternacht. Und um 9 Uhr aufgeschreckt aus dem Bett gesprungen- schließlich wollen wir um 11 Uhr starten. Ein wenig Yoga auf hartem Zimmerboden, gut frühstücken in der Lounge im 20. Stock, heute ist es deutlich wärmer und sehr sonnig. Shakti Shalini steht auf dem Programm. Eine Hilfsorganisation, die ich schon 1992 besucht hatte. Damals kümmerten sie sich um Ehefrauen, die in ihrer neuen Familie mit Kerosin übergossen wurden, überlebten, aber nicht zurück in ihre eigentlichen Familien durften. Genannt.: Dowry-burning. Heute sind es vor allem Obdachlose und Bewohnerinnen von Slums, die im Shelter Unterschlupf suchen. Abends gibt es dort für rund 30-40 Frauen und ihre Kinder eine warme Mahlzeit, dann dürfen sie ihre Matten auf dem kalten Betonboden auslegen und ruhig schlafen. Denn in ihren Zelten oder auf der Straße sind sie alle von Gewalt, Schlägen und Vergewaltigung bedroht. Sudha Tiwari ist von Anfang an dabei. „Die Gewalt in der Familie hat sich verändert“, erzählt sie. Auch weil die neuen Familien der Bräute jetzt per Gesetz verantwortlich gemacht werden, wenn der jungen Frau etwas geschieht. Aber dafür wird mehr mental gequält. Psychologische Kriegsführung, nennen das auch indische Feministinnen. Viele junge Frauen verlassen dann den neuen Mann. Aber viele landen dann auf der Straße. Wenn Frauen allerdings einen Job haben und selbst Geld verdienen, ist die Chance größer, dass sie ihre eigene Familie wieder aufnimmt. Neu in Delhi sind sogenannte „Hostels“, in denen alleinstehende Frauen Zimmer mieten und einem Beruf nachgehen. Aber immer noch sind allein in der 17-Millionen-Stadt Delhi 1,5 bis 2 Millionen Frauen hilfsbedürftig. Leider gibt es aber nur sieben Nacht-Shelter in der Stadt. Nebenbei kommen wir dann auch noch in dem blitzsauberen Shelter von Shakti Shalini auf die steigende Zahl von Vergewaltigungsopfer zu sprechen. Ein Grund sei, dass es immer weniger Mädchen gibt, weil die Föten abgetrieben werden oder die neugeborenen Babys ausgesetzt werden zum Sterben. Ein anderer sei der Zerfall der Familien. Während es früher auf die gesamte Familie zurückgefallen ist, wenn ein Mitglied etwas angestellt hat, fehlen den jungen Männern vor allem die Wurzeln und der Familienzusammenhalt. Keiner habe mehr Angst, einen Fehler zu machen und damit Schande über die Familie zu bringen. Aber: Die Menschen in Indien gehen inzwischen auf die Straße . Sie protestieren. Und zwar Frauen und Männer. Wenn eine vergewaltigte Frau heute zur Polizei geht, hat sie mehr Chancen als früher, ernst genommen zu werden. Vor allem, wenn sie entweder zusammen mit einer NGO oder mit einem Familienmitglied auf das Polizeipräsidium geht.

Abida ist 35 Jahre alt, sie hat zwei Söhne. Bezahlt von der Regierung passt sie für 235 Rupies am Tag( rund 3 Euro) im Shelter von Shakti Shalini auf. Obwohl ihr Mann extrem gewalttätig gegen sie war, bleibt sie bei ihm. Einmal, weil sie so ihren Kindern den Namen erhält. Zum anderen, weil sie als verheiratete Frau den Respekt der Gesellschaft genießt. Dazu arbeitet sie noch als Kosmetikerin. Das bringt zusätzlich Geld, und vor allem: Selbstbewusstsein.

Kamla Bhasin wohnt in einem bewachten Viertel. Mit Pförtner und Schranke. Eine schicke Gegend für reiche Inder. Sie hat drei Hausangestellte und ein elegantes Wohnzimmer. In fließendem Deutsch empfängt sie ihre Gäste. Um sehr schnell ihre wichtigste Botschaft loszuwerden: Die Gewalt gegen Frauen sei – im Verhältnis zur Zahl der Bewohner der Länder – in Indien kleiner als in Deutschland oder Schweden. Da erwischt sie mich auf dem falschen Fuß. Diese Zahlen habe ich nicht parat. Aber das kann ja in Ruhe noch geklärt werden. Die lebendige und höchste engagierte Feministin will mir noch etwas dringend mitgeben: Delhi sei nicht die Hauptstadt der Vergewaltigungen- sondern die Hauptstadt der Proteste gegen Vergewaltigung. Nirgends, so argumentiert Kamla Bhasin, seien je so viele Männer und Frauen wochenlang auf die Straße gegangen. Nur so sei es zu einem Umdenken in der Gesellschaft gekommen. Und zu dem jetzt vorbereiteten Gesetz zum Schutz von Frauen gegen Gewalt. Ihre Frage ist auch: gibt es mehr Vergewaltigungen- oder wird mehr darüber berichtet?

Im Laufe unseres intensiven und kontroversen Gespräches kommt sie dann aber doch auf den Punkt: auf den wachsenden Machismo der Männer. Gewehre, Sex und nackte Frauen, darauf bricht sie die Entwicklung herunter. Gewalt ist auch für sie eine Frage der Macht. Und zitiert gleich einen Schriftsteller: „Men of quality are not afraid of equality“. So wahr. Sie ist in ihrem Element und spricht von 40 Prozent Männern, die gegenüber ihren Ehefrauen gewalttätig seien. Aber fragt auch: „Wie viele sind gewalttätig gegenüber ihren Bossen?“ Dass die 650 Millionen indischen Frauen noch einen langen Weg bis zur Gleichberechtigung vor sich haben, will sie nicht verleugnen. Armut, fehlende Bildung und ein korruptes Rechtssystem müssten überwunden werden. Und die Feministin bringt noch ein interessantes Argument zur fatalen Tatsache, daß die Inder ihre Töchter entweder im Mutterlaib oder gleich nach der Geburt umbringen: Die Armen auf dem Lande tun das nämlich nicht. Weil arme Frauen arbeiten. Damit die Familie ernähren und nichts kosten. Arme Menschen seien nicht gierig. Erst wenn auch die Frauen der mittleren Klassen arbeiten gehen, eigenes Geld verdienen, wird sich hier das Blatt wenden. Erst dann hört der Genozid der Mädchen auf. Der bisher 35 Millionen weiblichen Babys das Leben gekostet hat.

Vom schicken Stadthaus mit Personal geht es enge Treppen hinunter in drei Keller-Büros. Hier sitzen gut gekleidete jüngere Männer und Frauen an Computern, vor sich und neben sich Berge an Papier. In einem kleinen Besprechungszimmer wird uns sehr höflich Wasser serviert, dann kommt der Rechtsanwalt Rajesh Gogna herein. Seines Zeichens General Sekretär der Human Rights Defense of India. Ich gucke en wenig müde aus meiner landesüblichen langen Hemdbluse . Zwinge mich aber, aufzupassen. Denn sein indisches Englisch ist äußerst gewöhnungsbedürftig. Es gebe viele Gesetze, erklärt er mir die Situation der Inderinnen. Aber leider für die meisten von ihnen kaum Zugang zur Polizei oder zu Gerichten. Wie? Das ist schnell und temperamentvoll von ihm erklärt: Ein Anwalt kostet für die erste Konsultation rund 10 000 Euro. Die Verfahren, wenn es denn dazu kommt, dauern fünf bis zehn Jahre. Darum hat er erkannt: „Forget it- if it´s not killing you“- das jedenfalls rät er in seiner Kanzlei. Da ist er zu 50 Prozent seiner Zeit. Die andere verbringt er hier im Keller, mit anderen Anwälten. „Advocacy“ nennt er das, wenn er für die Rechte der Armen, der Bettler, der Gejagten kämpft. Für die vergewaltigte Hindufrau aus der niedrigsten Kaste, die bei ihrer Anzeige auf der Polizei von den Polizisten wiederum vergewaltigt und heftigst missbraucht wird. Oder die Kinder, die gekidnappt werden, um für mafiöse Organisationen zu betteln. Wenn sie raus wollen aus dem Mileu, wenn ihnen mitleidsvolle Menschen helfen wollen, dann droht die Amputation der Hand oder des Fußes. Wer in diesem Lande arm sei, der würde einfach nicht existieren. Und darum setzt sich Rajesh Gogna genau für diese Menschen ein. Organisiert mit seinen KollegInnen und Kollegen Demonstrationen, Märsche und Veranstaltungen. Liest die Akten und schreibt sich die Finger wund. Es macht ihn sichtbar zufrieden, dass er so etwas Gutes tun kann. Für die Gesellschaft, in der er lebt. Obwohl er immer wieder erklärt:“ Ein Opfer bekommt kein Recht“. Als Deutsche mag ich das einfach nicht glauben. Aber auch Bindu mischt sich ein und bestätigt seine Aussage. Bitter- und morgen mehr.