08.12.2013, Indien

4. Tag

Bei der siebenstündigen Fahrt vorgestern aufs Land war ich nicht dabei: aber der engagierte BamS-Fotograf Christian Spreitz brachte nicht nur eindrucksvolle Bilder mit, sondern hat mir auch gleich die wichtigsten Infos per email zukommen lassen.

  • drei Frauen, die als kleine Mädchen in einem der armen Bundesstaaten einst gekidnappt wurden. Verkauft an Männer als vermeintliche „Ehefrauen“, um dann als Haussklaven ausgenutzt, geschlagen, missbraucht zu werden. Und immer wieder neu verkauft werden. Oft schon nach einer Woche, manche nach Monaten, oder erst nach Jahren. Aber immer sind Männer die Besitzer dieser Rechtlosen, und dürfen vermeintlich alles mit ihnen machen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Vor allem rund um die Uhr arbeiten. Trafficking ist das häßliche Wort für dieses weitere finstere Kapitel über Frauen in Indien.
  • Empower people kümmert sich um die Opfer heute. Versucht ihnen Papiere zu verschaffen, die sie allesamt nie hatten. Die NGO lebt von Spenden, die Regierung tut nichts. Dabei geht es um Millionen rechtlose und gequälte Frauen.

Bindu bringt uns am nächsten Morgen zu einer ganz anderen Frau: gebildet, Ärztin, Mutter von zwei Mädchen. Aber ihre Geschichte ist unfassbar: Mitu Khurana hat einer arranged marriage zugestimmt. Der Orthopäde schien ihr ein angemessener Partner. Das Grauen beginnt für sie, als sie schwanger wird. Die Schwiegermutter und ihr Mann wollen sie zu einer eigentlich per Gesetz längst verbotenen Geschlechtsbestimmung des Fötus zwingen. Sie weigert sich. Mit einem Trick und nach einem vergifteten Kuchen kommt sie ins Krankenhaus. Angeblich will der Arzt ihre Nieren mit Ultraschall checken. Er stellt aber fest, dass sie zwei Mädchen erwartet. Der Druck in der Familie wächst. Sie wird geschlagen, die Treppe hinunter geworfen, psychisch unter Druck gesetzt. Aber Mitu Khurana weigert sich standhaft die Babys abtreiben zu lassen. Als der Mann sie dann wieder die Treppe hinunterstößt, sie daraufhin auch noch in einem Zimmer einsperrt, gelingt es ihr ihre Eltern anzurufen. Die holen sie ab, gehen mit ihr zur Polizei. Die nimmt die Anzeige aber nicht an mit dem Argument: das ist eine Familienangelegenheit, da mischen wir uns nicht ein. Sie bleibt jetzt bei den Eltern. Inzwischen behauptet der Mann, das seien gar nicht seine Kinder. Unter dem psychischen Druck kommt es zu einer Frühgeburt. Aber die Mädchen schaffen es, sind heute acht Jahre und gesund. Inzwischen läuft ein langwieriger Scheidungsprozess. Der Mann behauptet, die Frau sei “grausam „ zu ihm gewesen. Jetzt muss sie beweisen, dass das nicht stimmt. Sie hat den vierten Anwalt, drei haben ihr geraten, die Klage zurückzuziehen. Eine Universitätsprofessorin unterstützt die junge Frau, inzwischen auch eine NGO. Sie ist schließlich die erste (!) in Indien, die einen solchen Fall öffentlich gemacht hat. Inzwischen inseriert ihr Mann auf einer website, dass er eine Frau sucht. Sein Foto zeigt er nicht, auch macht er keine weiteren Angaben. Außer, dass er Kinder habe, die aber nicht bei ihm wohnen. Er verheimlicht auch, dass er jetzt das Sorgerecht für die Mädchen haben möchte. Geht´s noch? Man sitzt sprachlos dieser in sich ruhenden, klugen Frau gegenüber. Deren Stiefvater mir beim Abschied nur sagt: “Was wird aus einer Welt, die nur noch an Geld denkt, und die Liebe vergisst?“. Mitu glaubt, dass der Prozess noch zehn Jahre dauern könnte. Dann sind die Mädchen 18, erwachsen, und die Schlacht ist gewonnen. Mein Gott, was für ein Schicksal. Wenigstens scheinen sich die Ärztin und ihre Eltern die Anwaltskosten leisten zu können. Eine Konsultation: 100 000 Rupies – 1 200 Euro. Das ist viel, viel Geld hier.... Nachdem wir mit Chai, Nüssen und Orangensaft bewirtet wurden, steigen wir ziemlich deprimiert ins Auto. Das ist kein Fall der unteren Kasten. Nein, das betrifft die Mittelschicht. Die stärkste Klasse in Indien. Wir ahnen nur, wie vielen Frauen es ebenso ergeht in ihrer Ehe, wenn sie eine Tochter erwarten.

Mein Wunsch war es schon in Deutschland, ein Krankenhaus zu besuchen. In allen Ländern der Welt begreift man viel von Mentalität und Lebenswirklichkeit der Menschen, wenn man mit offenen Augen durch ein Hospital geht. Wir sind im großen Regierungskrankenhaus nur für Frauen und Kinder nicht angemeldet. Aber der ärztliche Direktor versteht mein Anliegen und erzählt uns sogar , wieder bei einem Chai, eine persönliche Geschichte. Vom black-mailing einer Angestellten, die ihn der versuchten Vergewaltigung anzeigen wollte. Nur weil die CCTV-Kameras die Wahrheit zeigten, kam er davon. “Sicher, 95 Prozent aller Fälle in Indien sind wahr. Dass Männer sich vergehen an Frauen. Aber es gibt eben auch die andere Seite“. Er hat Glück gehabt, der Vater von zwei Töchtern mit spannenden Berufen. Die derzeit an alles andere denken, als an Heiraten. Das verbindet sie mit vielen gebildeten jungen Frauen in den großen Städten Indiens.

Der Verwaltungsdirektor führt uns dann durch die Klinik. Wo wie bei uns die Kaiserschnittgeburt zunimmt. Auf Wunsch der Frauen. Nach einer normalen Geburt bleiben die Mütter mit ihren Babys zwei Tage in der Klinik. Beim Kaiserschnitt vier. Das Krankenhaus schleust pro Tag rund 600 Patienten durch die einzelnen Stationen. 45 Ärzte sind rund um die Uhr und die ganze Woche im Einsatz. Es ist eine der 40 Regierungskliniken, aber die einzige ausschließlich für Frauen und Kinder. Gut organsiert, mit Inkubationsstation, OP-Einheiten, sechs Intensiv-Betten. Als Christian ein Foto von wartenden Frauen auf den Treppen machen will, schüttelt der Verwaltungsmann den Kopf: “ Wir bitten die Frauen immer in die Warteräume, da hören sie auch alle Ansagen über die Lautsprecher. Aber ich weiß nicht warum, sie sitzen lieber zusammen im Treppenhaus.“ Es ist wie in vielen solcher Länder in der Kinderstation: das liegen die Mütter mit ihren Kindern gemeinsam im Bett, versorgen sie. Dafür ist zu wenig Personal vorhanden. Was dann zu Hause passiert, wenn die Frauen nicht vor Ort sind, kann man sich vorstellen....die älteren Töchter übernehmen die Hausarbeit. Gutes Training für später, denken sich wohl die Väter.....

Wieder im Auto erfährt Bindu, dass uns der Nachmittagstermin platzt. Der Zug unserer Gesprächspartner hat sechs Stunden Verspätung. Also alles auf Morgen. Sie führt uns inzwischen zum lunch in ihren Club. Englisches Ambiente wie vor Hundert Jahren. Strenge Regeln, keine Sneakers und keine Jeans. Auf den lawns Picknicktische und Sonnenschirme. Hier luncht die indische Upperclass. Soignierte Damen und Herren. Elegant gekleidet und mit sichtbar viel Zeit. Auch das ist Indien. Ein schöner break inmitten der Recherche zur Situation von Indiens Frauen. Wir haben noch Zeit, und jetzt kommt die ehemalige Reiseleiterin durch: Bindu führt uns zum Grab des Humayun, dem Vorläufer des Taj Mahal und heutigem Unesco-Welterbe. Die Marmorkuppel ragt 43 Meter hoch, das quadratische Gebäude im persischen Stil birgt eine achteckige Grabkammer. Umgeben ist das alles von herrlichen Gartenanlagen, Wasserläufen und Schatten spendenden Bäumen. Bindu erzählt uns die spannenden Geschichten aus Indiens Vergangenheit. Wir haben wirklich Glück mit dieser jungen Frau, die nicht nur eine gute Stringerin ist, sondern ihr Land und seine Geschichte aus dem Effeff kennt.

Im Garten auf kleinen Mäuerchen warten wir auf den Sonnenuntergang. Letzter Punkt heute: die Bushaltestelle, wo die Studentin vor einem Jahr vergewaltigt wurde. Und von der noch heute alle in Indien sprechen. In den Zeitungen wird ständig über Aktionen zur Verbesserung der Situation der Frauen berichtet. Die Überschrift: “Sie entzündete eine Kerze“. Wie immer in Asien geht die Sonne in wenigen Minuten unter und die Dunkelheit kommt wie eine Woge ganz schnell über das Land. Durch das unsägliche Verkehrschaos zwängt sich unser tapferer Fahrer zu diesem Platz durch . Mitten in der Millionenstadt. Nicht draußen in den Vororten. Nein- mitten drin. Unter der Brücke einer riesigen Stadt-Autobahn drängen sich die Menschen an der Haltestelle. Eine dicht bewohnte Gegend. Man mag es gar nicht glauben. Die Studentin und ihr Freund sind hier gestanden, nach dem Kino, und ließen sich in einen privaten Bus locken, mit dunkel getönten Scheiben. Dann begann für sie das Drama. Christian macht eindrucksvolle Fotos, von den Bussen, den Menschen, der Haltestelle. Es ist unfasslich, dass dies zu einer gar nicht späten Zeit inmitten der Menschen geschehen konnte. Wir sind um 21 Uhr geschafft von diesem Tag, wollen noch ein wenig laufen, in Richtung Connaught Place. In einem gemütlichen Cafe gibt es herrliches indisches Essen und für Christian heute Abend „Freibier“. So jedenfalls der Kellner. Der uns dann verabschiedet mit dem Satz: “Sie kommen doch morgen wieder, oder?“ Klar, bei diesem wunderbaren Essen ganz sicher....