18.09.2015, Libanon: 4,5 Millionen Einwohner und 2 Millionen Flüchtlinge

Tagebuch 1 aus dem Libanon

Die immensen Müllberge in Beirut sind nicht zu übersehen. Das Verkehrschaos spürbar, erlebbar. Das ist der Libanon im September 2015, so groß wie halb Hessen, viereinhalb Millionen Einwohner, dazu zwei Millionen Flüchtlinge. Man stelle sich vor: ein Drittel der Menschen in Deutschland wären Flüchtlinge ! Die Hilfsorganisationen im Libanon sprechen dabei von 1,1 Million registrierten Flüchtlingen zuzüglich der rund 900 000 Illegalen. Obwohl sich mir da die Finger beim Tippen sträuben - denn niemals ist ein Mensch irgendwo illegal.


Ich bin weiter auf der Recherche: Wo sind die Frauen, wenn 75 Prozent aller in Europa ankommenden Flüchtlinge Männer sind. Wo sind die Kinder? Klar - bei den Müttern.
UNICEF-Chefin in Zahlé im Bekaa-Tal ist Berta Travieso. Wir kennen uns seit meinen Recherchen im Kongo für mein letztes Buch „Wo Frauen nichts wert sind". Berta ist dagegen nicht mit Gold aufzuwiegen. Sie hat mir einen Fahrer organsiert und er steht am Flughafen. Dazu eine Übersetzerin, Cecilia, die in den USA aufgewachsen ist, eine spanische Mutter hat und als Tochter eines libanesischen Vaters natürlich arabisch spricht. Dazu hat sie mich in einem Hotel in Zahlé eingebucht, das vom Charme und der Atmosphäre an das American Colony in Jerusalem erinnert. Also alles palletti...?
Wenn da nicht diese immensen Zahlen an Flüchtlingen wären. Überwiegend leben sie im Bekaa-Tal. Da wo sie früher aus Syrien kommend zur Erntezeit gearbeitet haben. Jetzt hausen sie in selbst zusammen gebastelten „Zelten", Hütten, einer Mischung aus Plastikplanen, Holzbrettern, und ausgemusterten Baumaterialien. ITS heißen Sie, informal tented settlements. Allein rund um Zahlé existieren 70 solcher ITS - im Ganzen 120 Kilometer langen und acht bis 12 Kilometer breiten Tal sind es 1.278 ...
Die syrischen Flüchtlinge zahlen dem Landbesitzer eine monatliche Miete für das Stückchen Grund, auf dem sie ihr neues Zuhause einrichten durften. Zwischen 50.000 und 100.000 libanesische Pfund- also 30 bis 60 Euro. Was sie nicht haben. Noch dazu, wo die Vereinten Nationen die Unterstützung für die Flüchtlinge auf 13 Dollar pro Mensch und Monat reduziert haben.


Am ersten Abend sitze ich mit Berta und ihrer italienischen Mitarbeiterin Dominique vor unserem schönen Kadri Hotel bei angenehmsten Temperaturen. Die beiden sprudeln nur so über vor Informationen. Ich komme mit dem Schreiben kaum mit. Am Anfang, gleich nach dem Ausbruch der Kriege in Syrien hatte der Libanon noch die Grenzen offengehalten, haben die Menschen ihre Nachbarn freundlich begrüßt. Das ist jetzt vorbei. Es sind einfach zu viele gekommen. Es wird keiner mehr registriert. Es gibt keine finanzielle Hilfe mehr. Sie gelten nicht mehr als „humanitarian cases". Seit Januar 2015 riegeln zudem Soldaten und Polizei die lange Grenze zu Syrien ab. Nur noch an einer kleinen Stelle gelingt es pro Tag - oder Nacht - etwa 10 Syrern unbemerkt ins Land zu kommen.


280 Millionen Dollar gibt UNICEF jedes Jahr im Libanon zur Verbesserung der Lebenssituation der Flüchtlinge in den ITSen aus. Für Wassertankwagen, Hygiene-Kits oder Latrinen. Aber auch für große, weiße Zelte, damit die Kinder der Syrer auch in die Schule gehen können und vor allem: dürfen. Grundregel der libanesischen Regierung: in keiner Klasse dürfen mehr syrische als libanesische Kinder sein. Deshalb wurden Nachmittagsschichten eingerichtet, Lehrer eingestellt, UNICEF Deutschland ist hier der große finanzielle Unterstützer.
Aber es gibt auch ein beunruhigendes Problem: viele Mütter in den Dörfern und Städten lassen ihre Kinder nicht in die Schule gehen. Angeblich sei der Schulweg zu lang, oder zu gefährlich. Oder die Mädchen seien Übergriffen von Männern ausgesetzt. Was ich bis jetzt allerdings erfahren habe, sind das alles Ausreden. Weil die Kinder lieber auf den Feldern arbeiten gehen sollen und Geld nach Hause bringen in ihre ITS-Behausung. Eine fatale Entwicklung. So versuchen Tag für Tag die Mitarbeiter, nicht nur von UNICEF, sondern von allen Hilfsorganisationen, die Mütter und auch die Väter, wenn sie denn da sind, zu überzeugen, dass Bildung für ihre Kinder die bessere Investition ist, als das sowieso geringe Salär in der Landwirtschaft.


Schon beim heutigen ersten Besuch von drei ITSen sehe ich, dass die Männer nicht mehr da sind. Sie haben es „nach Europa" versucht. Am liebsten: nach Deutschland. Das ist heute schon klar. Egal welches Alter sie haben. Die 16-jährige Eman zum Beispiel, seit eineinhalb Monaten mit einem anderen Syrer verheiratet, erzählt mir stolz, dass sie sich nächste Woche auf den Weg machen, legal mit einem Flugticket in die Türkei. Aber dann geht es illegal weiter, auf den Schleuserpfaden ab Istanbul. Und hoffentlich weiter bis Deutschland. Dort erwartet sie ihr Vater. Ihre Mutter - die bleibt im Libanon, im selbstgebauten „Zelt", mit den anderen Geschwistern.
Auch die 38-jährige Laila ist übrig geblieben mit ihren Kindern. Ihr Mann - längst auf dem Weg gen Europa. Sie wartet jetzt nur, bis sie „nachkommen" kann. Lena's Mann hatte hier drei Jahre als Flüchtling in einem Printshop gearbeitet, sie hilft als Lehrerin aus im Women Rescue Center. Wohnt in einem Einzel-Zimmer in dem kleinen Dorf, mit Kochnische und Bad darin. Mit ihren vier Kindern. Fünf Menschen also auf engstem Raum - der Vater ist ja nicht mehr da. Sie versucht über das UNHCR rauszukommen - ist aber auch bereit, den „illegalen" Weg zu gehen. Aber es fehlt das Geld. Für jeden in der Familie bräuchte sie 3.000 Dollar. Insgesamt 15 000 Dollar-unvorstellbar!
Anders Chaza. Die 30-jährige Syrerin und Mutter von drei Kindern hofft auf Frieden. Zusammen mit ihrem Mann, der im Libanon derzeit als Schreiner einen Job gefunden hat, will sie nach diesem Krieg wieder zurück in ihre Heimat. "Was bringt es denn, wenn alle weggehen? Wer kann denn dann Syrien wieder aufbauen?" fragt sie mich. Die kleine Familie zahlt 200 Dollar im Monat für einen einzigen Raum mit Küche. Und das seit nun vier Jahren, seit der Flucht zu Fuß über die syrische-libanesische Grenze. Aber sie gibt nicht auf, wirkt mutig und engagiert. Ihre beiden kleineren Kinder umarmt sie liebevoll und der ältere Junge, etwa neun Jahre alt, gibt ihr vor meinen Augen eine Kuss auf die Wange - um dann ein wenig verschämt gleich wieder wegzulaufen.
So viele Frauen kommen in dieses Women Rescue Center. Sie stützen sich gegenseitig und sind sich Trost. Auch die 30-jährige Amal mit ihren drei Kindern ist regelmäßig dabei. Streng muslimisch in einen schwarzen Hidschab gekleidet, will sie sich auch nicht fotografieren lassen. In einem Vorort von Damaskus, erzählt sie mir, habe sie mit den Kindern und ihrem Mann drei Tage und Nächte in der Wohnung durchgehalten. Es wurde ununterbrochen geschossen, es schlugen Granaten ein, Scharfschützen zielten auf alles in den Straßen. Als ihr Mann dann ganz vorsichtig aus dem Haus ging, um wenigstens Brot und Wasser zu kaufen, erschoss ihn ein syrischer Soldat. Für Amal gab es dann keinen anderen Weg mehr, um die Kinder zu retten: die Flucht in den Libanon. Zu Fuß sind die vier über die Grenze und jetzt seit drei Jahren hier im Bekaa-Tal. Ihre Zukunft? Auch sie hofft auf Frieden. Auf einen Weg zurück, auch um ihren Mann nochmal richtig begraben zu können.

Letzte Station an diesem ersten Recherchetag ein ITS mit der Nummer 004. 85 Hütten, oder Zelte. 800 Menschen leben hier. Es kommt mir fast komfortabel vor: es gibt Hühner, Tauben in einem hohen Schlag, schwarze Kühe in einem hölzernen Unterstand. Weiße Plastikstühle vor ein paar rührend gepflanzten Blumen.

Aber auch: Müll, Müll, Müll. Sie werfen alles weg. Nicht einmal nur auf einen Haufen. Der Libanon und seine Menschen haben ein Müll-Problem. Die Flüchtlinge kopieren das Verhalten ihrer „Gastgeber".


Seit zwei Wochen haust Syria zwischen Bretten, Plastikplanen und Betonmäuerchen. Mit ihren neun Kindern und ihrem Mann ist die 35-jährige Syrerin hierher gezogen. In der Hoffnung, für die beiden großen Kinder, den 16-jährigen Jungen und die 13-jährige Tochter, eine Arbeit zu finden. Denn von den nun 70 Dollar im Monat von den Internationalen UN-Organisationen können sie gerade mal Brot und Tee kaufen. Aus Ratka ist die Familie vor drei Jahren geflohen. Das neunte Kind auf dem Rücken der Mutter. Ratka war von den IS-Terroristen erobert worden. Seitdem ist das Leben unerschwinglich teuer geworden, kein Brot mehr zum Essen, kein Gas mehr zum Kochen. Für Syria und ihre Familie blieb nur eines: die Flucht. Der Mann arbeitete in Syrien als Taxifahrer - hier im Bekaa-Tal findet er keinen Job. Außerdem hat er Rückenprobleme und Atemnot. Deshalb sollen die Kinder arbeiten. Aber die 13jährige könnte ja auch auf die anderen Geschwister aufpassen, und die Mutter könnte auf dem Feld arbeiten - das zumindest erwähnt meine Übersetzerin Cecilia auf dem Heimweg. Da hat sie wirklich nicht unrecht.
In der Abendsonne fahren wir zurück in den Süden nach Zahlé - voller Eindrücke und Gedanken. Morgen führt mich Cecilia in andere ITSe, mehr im Norden bei Baalbek.
Das Tal ist wunderschön, eingerahmt von den Bergketten im Osten zu Syrien, im Westen in Richtung Beirut und damit zum Meer. Es wächst hier alles, zurzeit vor allem Weintrauben, Tomaten, Zucchini. Wenn doch nur im Nachbarland Frieden wäre. ...morgen mehr.