20.09.2015, Die IS-Terroristen sind im nächsten Dorf - kurz vor Baalbek

Tagebuch 3 aus dem Libanon

Baalbek- ein Zauberwort aus dem Geschichtsunterricht.
Heute nimmt mich Berta mit ihrem Wagen mit. Sie will mir diese unglaublich gut erhaltene Tempelanlage der Römer zeigen, den einst größte Sakralbau des Imperium Romanum. Ich nutze die einstündige Fahrt durch das malerische Bekaa-Tal um sie noch genauer uber die Aufgaben von UNICEF in Zahle´auszufragen. Denn mit 95 Mitarbeiterin sitzt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen eigentlich in Beirut. Da aber die meisten der syrischen Flüchtlinge in den Settlements hier im Tal festsitzen, macht es Sinn, wenn UNICEF mit rund 20 Mitarbeitern direkt vor Ort die Betreuung übernimmt. Dazu gehört die Errichtung von Schulen, mit allem was Kinder dann so brauchen: Hefte, Bücher, stifte, Schulrucksäcke. UNICEF will wie die libanesische Regierung ein ordentliches Schulsystem, auf das sie dann auch ein Auge haben. Denn die Regierung hat sicher nicht zu Unrecht Angst vor radikalen Einflüssen im Klassenzimmer, was hier meistens ein Zelt ist. Außerdem ist Wasser ein großes Thema. 90 Millionen Dollar werden hierfür ausgegeben, insgesamt investiert allein UNICEF 260 Millionen Dollar in Flüchtlingsprojekte im Libanon. Zur Wasserversorgung gehören auch die dringend nötigen Latrinen. Denn in den Anfangsjahren flossen die Exkremente und der Urin der Menschen einfach in die umliegenden Flüsse und Bäche. Das dritte wichtige Thema ist die Fürsorge und der Schutz der Kinder. Sexuelle Übergriffe gilt es zu erkennen und dann zu verhindern. Gewalt gegen Mädchen und Frauen entwickelt sich wohl besonders in solchen dramatischen Situationen, wenn Menschen auf der Flucht und unsicheren Lebenssituationen ausgeliefert sind.
Ich höre am nächsten Tag nach dem überwältigenden Eindrucken von Baalbek mehr noch dazu von den Frauen in den Settlements. Im sonst vollkommen menschenleeren und ruhigen Baalbek begegnete mir zum Schluss ein Karlsruher Ehepaar. Fleißig fotografierend, meinten sie dann
nur: "Wir wollen Baalbek einfach noch mal sehen, bevor die IS-Terroristen auch das zerstören- die sind schließlich nicht weit weg von hier im übernächsten Dorf".

Da will ich nur hoffen, dass die beiden Unrecht haben...
Immer wieder IS- in allen Geschichten der Menschen hier im Tal. Die 60jährige Esme zum Beispiel, die die vier- und siebenjährigen Enkel ihres toten Sohnes betreut. Die Mutter ging mit einem neuen Mann mit und ließ die Kinder einfach zurück. Ihr anderer Sohn arbeitet in der Gemeinde, da kommt wenigstens etwas Geld in die Hütte. Mit seinem jüngsten Kind sitzt sie auf der Erde, schaukelt das acht Monate alte Mädchen liebevoll. Will sie zurück, wenn es Frieden gelben sollte? Sie schüttelt entsetzt den Kopf. Nein, die IS, so glaubt sie, sei auch bald hier im Libanon. Ich sehe die Panik in ihren Augen
Der Bauer, dem das Land gehört, auf dem ihre ITS steht, lässt sie ohne Miete wohnen, ihre Rest-Familie hat Arbeit Bald gibt es auch eine Schule in der Nähe, damit die Jungen dorthin gehen können. Jetzt im Augenblick allerdings sieht es nicht gut aus, die Gasflasche ist leer, Esme kocht auf dem Feuer, im kleinen Shop hat sie Schulden. „Aber die Menschen sind freundlich hier zu uns", das beruhigt sie und lässt sie die Trauer um ihre tote Tochter und den Sohn ertragen.

Cecilia, die Übersetzerin, führt mich dann in eine sehr kleine, aber wie sie findet besondere ITS- dort hat sie auch schon für eine Hilfsorganisation gearbeitet. Erster Eindruck: alles ist blitzsauber. Die Matratzen im Zelt sind alle mit dem selben Stoff bezogen, ebenso die Kissen mit schicken Fransen. Zwei Handbreit über dem Betonboden hört die Zeltplane auf, da kann der Wind durch und kühlt im heißen Sommer. Heute hat es „nur" 32 Grad, das geht nicht ganz gut. Ein Moskitonetz schützt die Bewohner, die 23jährige Ferial und ihren Mann. Sie erwarten gerade ihr erstes Baby, sind erst seit sechs Monaten im Libanon, geflohen aus Hamma, einer Stadt bei Massa. Die Schwiegereltern hatten dem Paar die Flucht verboten. Heimlich bei Nacht und Nebel haben sie es gerade noch rechtzeitig über die libanesische Grenze geschafft, bevor im Januar 2015 die Regierung die Grenze zugemacht hat.
Jetzt müssen sie ihr Zelt winterfest machen. Große Frage: bei welcher Hilfsorganisation gibt es dafür Material? Si brauchen Plastikplanen, um das Zelt vor Wind und Schnee zu schützen, einen kleinen Ofen zum wärmen und Holz zum feuern. Mit ihren Freundinnen aus drei anderen Zelten sind sie eine enge Gemeinschaft. Sie helfen sich gegenseitig und sprechen natürlich auch über die Nachrichten aus Europa, das wohl viele syrische Flüchtlinge aufnimmt. Aber alle vier haben mit ihren Männern kein Geld für die lange und teure Flucht. Also richten sie sich hier ein und hoffen eines Tages auf Frieden in ihrer Heimat. Auch sie, wie so viele....

Cecilia ist die Tochter eines Libanesisch-Puerto-Ricanischen Ehepaars, die auch einige Jahre in den USA gelebt haben. Jetzt leiten die Eltern seit zehn Jahren ein SOS-Kinderdorf im Bekaa-Tal. Dorthin fahren wir zusammen mit unserem Fahrer Mohammed, um uns mit einer Kinderdorfmutter zu treffen. Nidal bekommt- wie alle anderen Hausmütter auch- einmal im Monat vier Tage frei. Da fährt sie in den Norden an die syrische Grenze, in ihre Heimat Arsal. Nidal weiß höchste bedrückende Geschichten von den syrischen Frauen in ihrem Dorf. Manche Libanesen kaufen sich von den Syrern die Töchter als Ehefrauen. Ein Vater hat es gar geschafft seine 23jährige Tochter gleich dreimal an Libanesen zu verkaufen. Immer wieder mit dem Argument, er habe ganz übersehen, dass sie schon einen Mann hätte- und sie dann wieder heimgeholt um sie an den zweiten und dritten zu verkaufen. Die Libanesen , die sich gerne ein folgsame Syrerin ins Bett holen, sind meist älter, haben das Geld für so einen „Frauen-Kauf" und nehmen sich die junge Syrerin als Dritt- oder Viertfrau ins Haus. Im Koran ist das ja erlaubt. Und 200 Dollar für eine solche Frau ist in ihren Augen billig. Manche Männer zahlen auch locker eintausend, zweitausend Dollar. Syrerinnen, so erzählt mir Nidal, sind vor allem beliebt, weil sie nicht so selbstbewusst sind wie die Libanesinnen, weil sie klaglos alles im Haus erledigen und keine Widerworte haben. Das geht nicht ohne Konflikte mit den bisherigen Ehefrauen des Mannes ab. Das kann ich mir lebhaft vorstellen.
Es gibt aber auch noch eine andere Seite diese „Geschäftes": die libanesischen Hausfrauen freuen sich über die syrischen Flüchtlingsfrauen. Denn sie putzen im Haus für sehr viel weniger Geld als früher libanesische Putzfrauen. So ist diese Arbeits-Ebene die einzige, wie Nidal erzählt, welche die syrischen Frauen mit den libanesischen haben. Die Kehrseite dieser Medaille: die bisherigen libanesischen Frauen, die im Haushalt geholfen haben sind arbeitslos. Eine Entwicklung, die auch viele Männer im Libanon betrifft, das erfahre ich später auch noch in Tripoli, der Hafenstadt im Norden des Landes.

Wieder eine ITS, diesmal auch ganz nah an der Schnellstraße durch das Bekaa-Tal. Eine junge Frau erwartet uns schon , winkt uns auf einen großen Platz. Sie ist ein „Shawish", oder eine „Shawish", die einzige Frau die diese Aufgabe in den 1 278 ITS-en im Bekaa-Tal erfüllt. Quasi die Bürgermeisterin des Settlements. Wie kommt das? So jung? Selbstbewusst bittet sie uns in ihr Zelt. Legt ihren vier Monate alten Sohn in einen Maxi Cosi und bringt eisgekühlten Orangensaft in schönen Gläsern, auf einem Tablett. Heya, so heißt sie, hat den Männern in den neun Zelten erklärt: „Wenn ihr nichts für uns tut- dann mache ich das!" Und schon war sie gewählt. Seitdem kümmert sie sich um die Winterfestigkeit der Zelte, um das Funktionieren der Latrinen, um Holz für die kleinen Öfen und um die Kontakte mit den Hilfsorganisationen. 20 schulpflichtige Kinder leben in diesem kleinen Settlement. Sie hatte so gehofft, dass eine Hilfsorganisation Schulhefte, Bücher und Stifte vorbeibringen würde- aber leider hat das nicht geklappt. Sie würde die Kinder unterrichten, die alle wegen des zu langen Schulweges nicht in das benachbarte Dorf in den Unterricht gehen können. Tagsüber sind die Kinder alleine- denn alle Mütter arbeiten, damit es etwas zu essen gibt.
Ich frage, wie weit der nächste Schreibwaren-Laden entfernt ist? Nur fünfzehn Minuten mit dem Auto, erklärt sie mir. Die Idee kommt mir beim Zuhören: wir könnten doch zusammen die Schulmaterialien für die Kinder kaufen. Heya verspricht die Kinder zu unterrichten, damit sie wenigstens lesen und schreiben können- und ihr Ehemann passt inzwischen auf das Baby auf.
Wir springen zu Mohammed ins Auto, kaufen 20 Hefte, 20 Bücher, 20 Radiergummi, 20 Stifte, 20 Malschachteln usw....und Heya schleppt die roten Plastiktüten zufrieden in ihr Zelt. Cecilia wird das Projekt begleiten und mir dann immer wieder Fotos schicken- das ist ausgemacht. Und ich habe 100 Dollar für eine gute Sache gespendet.
So hoffe ich wenigstens....
Morgen wollen wir nach Tripoli. In der Hafenstadt sollen Tausende an Flüchtlingen auf eine Schiffpassage in die Türkei warten. Um sieben Uhr geht es los. Morgen mehr...