22.09.2015, Ein einziges Buch reicht nicht für alle Schicksale

Tagebuch 5 aus dem Libanon

Heute Nacht ist mir nicht aus dem Kopf gegangen, dass der Arzt in dem islamischen Medizin-Zentrum gestern während unsrer Interviews eine ebenfalls anwesende junge Dame gebeten hat, doch genau aufzupassen, ob unsere Übersetzerin auch richtig übersetzen würde....das hat Cecilia erst mal richtig durcheinander gebracht. Ich habe es ja erst später erfahren. Was mir allerdings gleich klar war: die junge Assistentin hinter ihrem Laptop verstand perfekt englisch....Vertrauen ist eben nicht überall vorhanden. Schade.

Letztes Treffen in einer ITS weiter im Süden des Bekaa-Tales mit Frauen. Dominique von UNICEF konnte das organisieren. Der Shawish empfängt uns mit einem Kind auf dem Arm und weiß schon Bescheid: wir wollen keine Männer dabei haben !
15 Syrerinnen zwischen 15 Jahren und 55 sitzen jetzt auf Bänken. Ungewöhnlich für die Zelte in den ITSen- diesmal kein Schuhe ausziehen und nicht wieder im Schneidersitz auf dünnen Matratzen sitzen. Cecilia erklärt wie immer wer ich bin, was ich will und warum ich mich mit ihnen unterhalten möchte. Viel Wohlwollen kommt mir entgegen. Sie tragen alle den Hidschab, manche bunt, die meisten schwarz. Auch diese jungen hübschen Mädchen verbergen ihre sicherlich schönen Haare unter den Tüchern. Diese ITS hat 43 Zelte, es leben über 200 Menschen darin, alle kommen sie aus einem Vorort von Damaskus und waren schon bald zu Beginn des Krieges eingeschlossen von den Assad-Truppen. Sie hatten nichts mehr zu essen, kaum noch Wasser und nur noch die einzige Überlebensmöglichkeit: die Flucht.

Als sie hören, dass ich ein Buch über ihre Schicksale schreiben möchten, lachen sie herzhaft: " Nur ein Buch? Das reicht bei weitem nicht, um all unsere Erlebnisse und Erfahrungen zu erzählen..." Ich bin gespannt.
Was auch erstaunlich ist: alle sind mit ihren Männern hier. Keiner von ihnen hat sich bisher aufgemacht gen Europa. Obwohl die meisten der Familien schon den ordentlichen Weg beschritten haben, und über das UNHCR einen Antrag auf Ausreise und Anerkennung des Kriegsflüchtlingsstatus gestellt haben.
Die Mädchen in der Runde gehen- bis auf eine- nicht in die Schule. Das sei zu teuer, sagen ihre Mütter. Die Schulen würden 100 Dollar im Monat kosten. Was aber nur für syrische Privatschulen gelten kann, denn die libanesischen Schulen sind kostenlos. Die Regierung hat sogar die Nachmittage möglich gemacht für die syrischen Kinder. Aber aus vielen Gründen halten die Mütter wohl ihre Töchter und Söhne lieber zuhause und lassen sie nichts lernen. Später in unserer inzwischen sehr fröhlichen Gesprächsrunde kommt heraus, das angeblich einige Töchter angemacht worden waren von libanesischen Jungen. Das war dann auch ein Grund, diese Mädchen nicht mehr in die Schule zu lassen. Was wirklich wahr ist? Auch Berta Travieso von UNICEF kennt die Gründe nicht genau. Ihr Schulteam kämpft verzweifelt darum, dass mehr syrische Kinder in Schulen gehen.

Eine der Frauen, Rimas, lebt als Einzige erst seit neun Monaten in dieser ITS. Sie ist mit ihrem Mann und drei Kinder aus Alamoun geflohen, als die Assad-Truppen ihr Haus konfiszierten und um sie herum nur noch geschossen wurde. Der Mann lief zu Fuß über die Berge in den Libanon, sie packte nur in ihren Kleidern die Kinder, die nötigsten Papiere und sprang in ein Taxi. Bevor Libanon die Grenze ganz geschlossen hat, schaffte sie es hierher.

Wie es mit der Arbeit aussieht? Eine einzige der Frauen putzt in einer libanesischen Familie im nahe gelegenen Dorf. Ein Viertel der Männer in der ITS hat Arbeit. Und die meisten Mädchen arbeiten auf dem Feld. Vielleicht ist das der wahre Grund, dass sie nicht in die Schule gehen? So bringen sie wenigstens Geld nach Hause.

Der Winter steht vor der Tür. Sie schütteln sich alle bei diesem Gedanken. Das sei dann noch ein eigenes Buch, erklären sie mir. Im Winter sind die Kinder krank, die Zelte brechen zusammen unter der Schneelast, die kleinen Heizkörper oder Ofen schaffen es bei Weitem nicht, die 12 bis 15 Menschen im Zelt zu erwärmen. Alle zittern und frieren wie verrückt. Weil sie wie so viele immer Angst haben, dass das Dach unter der Schneelast auf sie herunterfällt, schlafen einige sogar lieber vor dem Zelt- im Schnee – und beten, dass sie bald Post von UNHCR bekommen und das Bekaa-Tal verlassen dürfen.

Und wenn keine Post kommt? Einige der Familien warten schon neun, zehn Monate....Dann machen sie alles zu Geld, was sie haben, Damit sie für den einen, den Mann die zweitausend oder dreitausend Dollar zusammen bekommen. Damit der sich aufmachen kann gen Europa. Auf die lange, gefährliche Flucht. Und die Frauen harren hier aus, warten und hoffen.

Ist das dann nicht gefährlicher, ohne Schutz? Da wollen sie sich gegenseitig unterstützen. Lassen keine alleine. Eine junge Frau wollte mit einem Taxi ihren kranken Sohn ins Krankenhaus bringen- aber der Fahrer steuerte plötzlich auf Feldwege und in einen Weinberg. Nur weil sie heftig und laut geschrien hat, ist sie davon gekommen, erzählt sie heute. Deswegen sind sie immer zu mehreren unterwegs, damit sich keiner an eine einzelne Frau herantraut.

Inzwischen bekommen sie weiter Kinder, Jahr für Jahr. Angeblich ist die Anti-Baby-Pille, die sie kaufen können für wenig Geld, nichts wert. Sie würde nicht helfen. Auch nicht ein Diaphragma, erzählt mir lachend die 39jährige Alla. Sie sei trotz Diaphragma schwanger geworden. Und meine Frage, ob es denn Sinn mache, so viele Kinder zur Welt zu bringen, wenn man sowieso so wenig zu essen hat, lachen sie mich aus. Früher hatten syrische Familien laut Statistik nur 2.3 Kinder. Heute, durch diesen Krieg ist das anders. Kinder sind ihre Zukunft sagen sie mir auch. Und außerdem gäbe es kein Fernsehen, keine Unterhaltung- es bleibt ihnen darum nur die Liebe, oder?

Da lachen sie alle fröhlich. Das verbindet sie wohl in ihrem Schicksal. Dass jede von ihnen ein eigenes Buch füllen könnte mit ihren eigenen Erlebnissen wird mir schon nach diesen zwei Stunden klar. Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge, zurück in mein geordnetes, luxuriöses Leben im Hotel in Zahle´ und dann wieder in Deutschland. Zurück bleiben zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Ohne Hoffnung und Zukunft. Es ist zum Verzweifeln.