12.02.2017, Ich stehe hier und kann nicht anders...

6. Dortmunder Frauenmahl

Beim Übertritt in mein drittes Leben, nach 43 Jahren in Zeitungen, beim Bayrischen Rundfunk, im ZDF und in der ARD, habe ich ein Coaching gemacht. Fragestellung: wofür stehe ich- was sollte ich als meinen USP(unique selling proposition) weiter verfolgen. Das war dann ganz einfach, nach einem ganzen Tag mit vielen Fragebögen, Rätseln, Spielen und am Schluss dem Ergebnis: Frauen-Kinder-Unrecht.

Dafür stehe ich wohl- und kann nicht anders. Das heißt aber auch: Verantwortung übernehmen. Für andere.
Mein Beruf hat mir da immer ganz klar den Weg gezeigt: wo Unrecht geschieht, muss berichtet werden. Da muss Frau den Finger drauf legen.

Keiner, der heute auf der Welt, in Europa und in Deutschland nicht aufgeregt, irritiert und oft verzweifelt auf den neuen Mann im Weißen Haus blickt. 52 Prozent der weißen Amerikanerinnen haben ihn gewählt. Also nicht nur die weißen alten arbeitslosen Männer....
Jetzt gehen sie zu Millionen auf die Straße, in Washington, New York, in Boston und Chicago. Mit rosa „Pussy-Mützen". Auch die Hamburger Bürger haben demonstriert. Ich bin stolz auf sie , auf meine Stadt in der ich seit 2003 lebe.
Die Frage ist nur: können wir, die wir hier so weit weg demonstrieren, überhaupt etwas bewirken? Wenn schon führende Juristen in den USA angestrengt überlegen, wie man einem solchen Präsidenten beikommen könnte...
Ein Mensch, der Muslimen generell die Einreise in die Vereinigten Staaten verbietet. Sie quasi alle als Terroristen brandmarkt. Der syrische Flüchtlinge nicht aufnehmen will, Menschen die vor einem Krieg fliehen. Dabei haben doch 147 Staaten auf der Welt die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben. Mit der Signatur auch der Vereinigten Staaten...gilt alles nicht mehr?

Ich denke, wenn alle vernünftigen Frauen in den Vereinigten Staaten vehement und laut auf die Straße gehen würden, und das konsequent und über eine längere Zeit, dann würde dieser Mann innehalten. Weil sie alle seine Wählerinnen sein könnten und er nach vier Jahren womöglich nicht mehr gewählt würde.
Und wir, in Europa? Auf die Bundeskanzlerin kommt eine weitere, schwierige Aufgabe zu: Europa so weit wie möglich zu stärken, zu einen. Auch jetzt gegen die Vereinigten Staaten. Mit einer Theresa May, die verzweifelt versucht für ihr Großbritannien das Beste herauszuholen, nachdem die Mehrheit der Bürger, vorwiegend die Älteren, für das Leave, den Austritt aus der EU gestimmt haben. Noch ist das Vereinigte Königreich aber Mitglied des Vereins der 28 Staaten.
Zwei Frauen also, die um ihre Aufgaben derzeit nicht zu beneiden sind. Sie übernehmen Verantwortung, kämpfen gegen die Trumps, Putins, Orbans und Erdogans dieser Welt. Reisen zu ihnen, schütteln ihnen die Hände in der Hoffnung, durch das miteinander Reden etwas verändern, verbessern zu können. Was sollen sie denn sonst tun? Reden ist allemal besser als Krieg führen.
Und wir hier, jede einzelne von uns? Wo und wie können und müssen wir Verantwortung übernehmen?
Ich bin seit der Erscheinung meines letzten Buches „Kein Schutz nirgends-Frauen und Kinder auf der Flucht" sehr oft eingeladen zu Vorträgen. Es sind Frauenorganisationen, es ist die Kirche, sind die Gleichstellungsbeauftragten der Städte und Gemeinden, die sich für dieses Thema interessieren. Recherchiert habe ich in den Flüchtlingslagern in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und auf Lesbos. Viele der Zuhörerinnen engagieren sich in der Flüchtlingshilfe, in den Erstaufnahmezentren, in Integrationskursen, in den Kleiderkammern, als Übersetzerinnen, Psychologinnen. Es ist wirklich unglaublich, wie viele Menschen, Männer und Frauen, bis zum heutigen Tage aktiv sind, nicht aufgeben oder gar einknicken. Gegenüber rechten Hassattacken, der monatlich 40 tätlichen Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Gegenüber der Diskussion im Lande, es seien zu viele, sie seien unkontrolliert ins Land gekommen. Lauter Terroristen, wir sehen das ja in Berlin, in Freiburg, in Ansbach und Würzburg...diese Menschen halten dagegen. Sind wohlinformiert. Sagen: "Wir sind 83 Millionen Einwohner- und 890 000 Flüchtlinge sollen hier in diesem Land nicht unterkommen?" Den Satz der Kanzlerin „Wir schaffen das" trauen sich allerdings viele nicht mehr in den Mund zu nehmen.
Dabei hat sie doch so recht. Wenn nicht Deutschland- wer kriegt es denn sonst hin? Wobei das eine die 890 000 Geflüchteten sind, die hier jetzt sicher leben. Auf alle Fälle sicherer in Relation zu ihrem Fluchtort.
Was bei uns völlig außen vor gelassen wird, sind die Frauen und Kinder in den Flüchtlingslagern. Rund 6 Millionen. Denn als das Welternährungsprogramm im Sommer 2015 die Zahlungen an die Flüchtlingsfamilien in der Türkei, im Libanon , in Jordanien von 26 Dollar auf 13 Dollar reduzieren musste, weil die Industrienationen nichts mehr eingezahlt hatten- da haben die Familien beschlossen den Stärksten in der Gruppe, den Vater, den älteren Sohn, den Onkel oder auch Großvater loszuschicken auf die große Reise nach Europa. In der Hoffnung, diese Männer kommen erstens durch
und zweitens- sie können ihre Frauen und Kinder nachholen.
Diese Frauen und Kinder warten zum großen Teil bis heute. Denn syrische Flüchtlinge erhalten zwar in Deutschland Asyl, aber sogenannten subsidiären Schutz. Festgeschrieben durch das in größter Eile durch den Bundestag gepeitschte Asylgesetz II. Und subsidiärer Schutz heißt auch: kein Familiennachzug. Zumindest für zwei Jahre.
Ein paar Zahlen und Informationen zu den drei Ländern mit den meisten Flüchtlingen: Die Türkei hat 78 Millionen Einwohner und drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen, Klaglos. Allerdings jetzt sind die Grenzen zu zum Irak, vor allem zu Syrien. Der Libanon hat 4,5 Millionen Einwohner und 2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Auch da sind die Grenzen jetzt zu. Jordanien hat 6,5 Millionen Einwohner und 1,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt lassen sie nur noch Frauen und Kinder einreisen.
Und Griechenland, ein europäisches Land? Dort sitzen derzeit 65 000 Flüchtlinge fest. Zum Teil auf den kleinen Inseln, 65 sind gerade im Winter 2017 auf Lesbos erfroren, die anderen vegetieren im Landesinneren, in kärglichen Lagern, wo es kein Vorwärts und kein Zurück gibt. Allein Im Bekaa-Tal im Libanon leben 400 000 Kinder, ohne Schule, ohne Bildung, eine lost generation.
Es zerreißt einem das Herz, wenn man die Frauen und Kinder auf den dünnen Schaumstoffmatten sitzen sieht, in sogenannten ITS-en, informal tented settlements. Keine Zelte, wie sie den Flüchtlingen in der Türkei vom Militär aufgestellt wurden. Sondern in selbstgebauten Behausungen aus Pappe, Papier, ein wenig Holz und Plastik. Im Winter schneit es, und viele Frauen haben mir erzählt, dass sie dann lieber draußen im Schnee schlafen, weil sie Angst haben, dass die Schneemaßen sie ersticken, wenn das Dach zusammen bricht.
Überall in den Lagern versuchen die Frauen ihre kleine Familie zu ernähren. Jetzt gibt es wieder Geld, in Form von Plastikkarten, monatlich 30 Dollar. Aber unverändert arbeiten die Kinder, bei Bauern, in Fabriken, damit sie halbwegs durchkommen. In alten Fernsehapparaten sehen sie, was in ihrer Heimat geschieht. Mit mobilen Telefonen halten sie Kontakt mit ihren Männern, Söhnen. Wo auch immer die gelandet sind.

Wir hier? Wir schließen die Augen. Die Frauen und Kinder als Opfer dieser mörderischen Kriege in Syrien und im Nord-Irak kommen nicht mehr vor, weder in den Zeitungen, noch im Radio und Fernsehen. Dafür sehen wir Melania Trump.
Auf einem Feld im Libanon hat mich eine Großmutter gefragt, ob ich nicht eines ihrer Enkelkinder mit nach Deutschland nehmen könnte. Ich habe mich ganz schlecht gefühlt, dies abzulehnen. Aber habe ihr das Versprechen gegeben, ihre Geschichte weiter zu erzählen. In dem Buch zu publizieren, in Vorträgen zu berichten, in Diskussionen zu erwähnen. Damit es nicht vergessen wird. Das ist meine Form der Verantwortung. Unter dem USP: Frauen, Kinder, Unrecht.