24.11.2017, Gemeinsam leben

Anlässlich der Verleihung des Mestemacher-Preises „Gemeinsam leben“

Sehr geehrte Frau Prof. Detmers, liebe Ulrike, meine Damen, meine Herren,

ein wunderbarer Preis, den sich hier die umtriebige und engagierte Ulrike Detmers ausgedacht und in die Tat umgesetzt hat. Großzügig und wichtig - gerade jetzt in unserer Zeit. Sie berichtet von Beispielen zuhauf, wo und wie „gemeinsam leben“ funktioniert. Lauter positive Beispiele, die anregen sollen für ein weiter so, und vor allem für ein MEHR.

Nun darf ich, als Journalistin, hier die von ihr so genannte „Festrede“ halten. Das ehrt mich sehr. Aber als Journalistin mit Leib und Seele lege ich schon immer- trotz meines halbvollen Glases im Leben- den Finger auf Dinge, die nicht funktionieren, die nicht in Ordnung sind, wo Unrecht geschieht.

Auf heutige Thema bezogen: wo gemeinsam leben eben nicht klappt. Ich möchte uns alle daran erinnern, wo sich etwas ändern sollte, müsste. Wo sich jeder von uns einen kleinen persönlichen „Stupser“ geben kann. Damit das „gemeinsame“ tatsächlich ein „gemeinsam leben „ wird. Mit Ihnen über den heimatlichen Tellerrand blicken. Quasi vor der Haustüre.

Vielleicht stutzen Sie jetzt. Heimat? Gerade jetzt so oft gebraucht und aus meiner Sicht: missbraucht. Die Grünen vermengen damit ihre Forderungen zur Umwelt und Energie. Die CDU/CSU sieht sich im Heimatbegriff konservativ verwurzelt und die AfD verkauft mit dem Heimatbegriff ihre Anti-Flüchtlingspolitik. Das zu allererst darum: Heimat darf nicht für Rassismus und Neonazismus stehen. Denn Heimat ist keine Postleitzahl. Heimat tragen wir in uns. Heimat ist Halt. Gerade auch, wenn andere den Heimat-Begriff miss-brauchen. Und: Heimat verhilft zu einem guten gemeinsamen Leben.

Und da bin ich dann auch gleich bei den Wahlergebnissen. Keinen von uns wird diese Wahl kalt gelassen haben. Weder im Vorfeld, noch danach. Die Kampagne der CDU erinnern wir alle: „nie ging es uns so gut, wir leben in Frieden und Wohlstand.“ Richtig. Aber der Graben zwischen Arm und Reich wird immer größer, Sagen die anderen. Was stimmt nun? Wer hat Recht?

Wahr ist: die Arbeitslosigkeit im Westen Deutschlands ist so niedrig wie nicht mehr seit 25 Jahren. Die Rentner haben die höchste Erhöhung seit 23 Jahren einstecken dürfen. Aber leider stimmt auch: Wohlstand war noch nie ungerechter verteilt in Deutschland als 2017. Wir lesen oft kopfschüttelnd von den Gehältern für Fußballer, den immensen Boni für gerissene Banker, wir lesen von coolen Unternehmen, die es schaffen die Steuern am Fiskus vorbei zu schleusen. Aufzufinden allesamt in den Panama Papers, und in den Paradise Papers. Aber wir Frauen verdienen immer noch durchschnittlich 22 Prozent weniger als die Männer, Pflegekräfte weniger als Techniker, Leiharbeiter weniger als Festangestellte und Mütter beziehen weniger Rente als kinderlose Frauen. Kapitaleinkünfte werden niedriger besteuert als der Lohn des arbeitenden Menschen, und Alleinerziehende zahlen mehr Steuern als kinderlose Ehepaare. Viele Menschen stellen die Frage nach Gerechtigkeit: wieso hat Leistung so wenig Bezug zum Reichtum des einzelnen Menschen ?

Lassen Sie mich aber noch weiter dieses Thema beleuchten. Denn Tatsache ist: immer noch gelten 13 Millionen als arm. 3 bis 5 Millionen Menschen leben in verdeckter Armut. Sie gehen nicht zum Amt, lassen sich vom Sozialstaat nicht helfen. Aus Scham oder oft auch aus Unwissenheit. Wenn sie sich trauen, dann sind sie sogenannte Aufstocker, also Hartz II-Empfänger. Weil trotz Volljob das Geld nicht zum Leben reicht.

Und weiter: Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. 20,9 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in meiner Heimatstadt Hamburg. Sie leben unterhalb der Grundsicherung. Kennen nicht den Hafen und kein warmes Mittagessen. Jedes 5. Kind! Und – so die aktuelle Bertelsmann-Studie: diese Kinder leben bis zu fünf Jahre lang unter solchen Bedingungen. Ein Skandal - finde ich. Das kann sich Deutschland nicht leisten, das ist nicht nur unmoralisch und ungerecht, sondern auch höchst unklug. Denn diese Kinder bleiben auch als Erwachsene arm. Kommen nicht raus aus diesem Teufelskreis. Da läuft gewaltig was schief, wenn wir über gemeinsames Leben nachdenken.

Denn: 10,6 Billionen Euro – nicht Milliarden, Billionen - beträgt das Nettoprivatvermögen in Deutschland. Ich will hier nicht einer Umverteilung das Wort reden. Das muss ich gar nicht. Denn jetzt melden sich die globalen Währungshüter – die, weit entfernt von der Vermutung, sie könnten ein soziales Gewissen haben, nein, die jetzt warnen: Die Ungleichheit muss alle Regierungen beunruhigen, denn Ungleichheit schadet dem sozialen Zusammenhalt und begünstigt politische Polarisierung. ( Orginalzitat) Mit der gefährlichen Folge, dass Wachstum nicht mehr nachhaltig ist. Wenn große Teile der Bevölkerung -so schreiben die Wirtschaftswissenschaftler - nicht mehr in den Genuss der Früchte des Wirtschafts-Wachstums kommen, aber umgekehrt ihr Einkommen bedroht sehen, dann befürworten diese Menschen eine Politik der Abschottung. Wie gesagt: das sagen die IWF-Ökonomen. Jetzt. Endlich. Denn auch sie sehen: der Graben zwischen Arm und Reich wird immer größer.

Abschottung, Barrieren. Das ist die Gefahr die hier lauert. Wenn wir nicht gemeinsam leben. Eine Entwicklung, die sich - und jetzt gucke ich ganz bewusst über den heimatlichen Tellerrand in andere Staaten - manche Staatsmänner zu nutze machen. Trump, Putin, Orban und Erdogan. Das sind die derzeit vier egozentrischen Weltführer , allesamt extrem reich, und mächtig. Die in ihren Ländern die Menschen ver - führt haben. Weil diese ihnen glaubten. Ihren politischen Parolen, ihrer Verführungstechnik aus Komplimenten und Beleidigungen. Sie vertreten das pure Gegenteil von gemeinsam leben. Nein, ihre Wähler lehnen sich an sie an, suchen Sicherheit. Akzeptieren, dass von diesen Führern das Land in Gut und Böse, in Unterstützer und Gegner aufgeteilt wird. Hatten wir doch schon mal, oder?

Jetzt sagen wir dann gerne in Diskussionen zuhause am Frühstückstisch, oder bei Freunden, oder im Lokal: Dies sind jetzt nicht unsere Probleme hier, bei uns können demokratisch gewählte Regierungen alles anpacken, ändern, damit wir wieder in einer gerechten Gesellschaft leben. Miteinander und nicht gegeneinander. Gemeinsam und fair. Das ist zu schaffen, davon bin ich überzeugt. Es muss nur der Wille dazu vorhanden sein. Der politische Wille. Wobei die Wahlen gerade jetzt gezeigt haben: auch wir Wähler haben einen Willen, nach dem sich die Parteien ja nach Wahlergebnis zu richten haben. Ich denke gerade jetzt während vier Parteien die Koalitionsbedingungen verhandeln, sollten wir uns einmischen, einbringen. Sie alle sind „Multiplikatoren“, jeder kennt hier in Berlin einen Bundestagsabgeordneten, ein Mitglied einer Partei. Man muss reden, den Rücken gerade machen, laut und engagiert. Und den Finger auf die Wunden legen....mit guten Argumenten.

Aber noch einmal zu den Wahlergebnissen: Viele Meinungsforscher haben bei der Analyse dieser Zahlen festgestellt, dass es das Thema Flüchtlinge war, das zu den bekannten Ergebnissen geführt habe. Erinnern wir uns: Da kommen in einem Jahr 890 000 Geflüchtete in Deutschland an. Da bemüht sich ein Großteil der Bürger dieses Landes mit einem „warm welcome“ ihnen die Schrecken des Krieges, der durchschnittlich drei monatigen Flucht vergessen zu machen. Da kämpfen im BamF, dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration Tausende Menschen, die Asylanträge zu sichten, zu beurteilen. Da geht eine Woge der Hilfsbereitschaft durch das Land, und 87 Prozent der Bürger haben nicht rechte Parteien gewählt. Aber dennoch. Als Rechtsruck, als Quittung für die Flüchtlingspolitik oder als Zeichen des Frusts in Ostdeutschland- so sind laut der Meinungsforscher die Wahl-Ergebnisse zu deuten. Beginnt hier eine Spaltung der Gesellschaft? Geht hier „Gemeinsam leben“ über in ein „Getrennt leben?“ Sich abschotten, in der eigenen Echokammer bleiben- statt einander zuzuhören?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Tag der deutschen Einheit sehr deutlich formuliert und gefordert: „die Mauern der Unversöhnlichkeit sollten abgetragen werden, die in unserem Land gewachsen seien“. Von Rissen sprach er, die sich unübersehbar durch ganz Deutschland ziehen.

Ich bin viel unterwegs in diesem Land. Erzähle von den Recherchen zu meinem letzten Buch“ Kein Schutz nirgends-Frauen und Kinder auf der Flucht“. Mit Bildern aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und auf der Insel Lesbos beschreibe ich, wie es den Frauen und Kindern dort ergeht. Sie hängen dort fest. Die Festung Europa steht. Dennoch hoffen sie alle auf eine Familienzusammenführung. Oder auf eine Heimkehr in die Länder, in denen entweder noch Krieg herrscht, oder die alles andere als sicher sind. Aktuell haben 70 000 Männer und Frauen mit ihrem anerkannten Asylantrag einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt. Das heißt, dass mit einem Ticket der Ehemann, die Ehefrau und Kinder unter 18 Jahren wieder zusammen leben können sollten. Ich formuliere bewusst so vage. Denn Sie alle wissen, dass CSU und CDU sich in einem Papier darauf verständigt haben, die Familienzusammenführung aller Flüchtlinge mit subsidiären Schutz, also derjenigen aus dem Krieg in Syrien, über den März kommenden Jahres hinaus auszusetzen. Unmenschlich, denke ich. Denn diese Änderungen des Asylgesetztes II sind vor allem auf Druck rechter Argumente vorgenommen worden. Bis ins Frühjahr 2016 hatten noch fast alle Syrer Flüchtlingsschutz erhalten.

Jetzt fordern aber die Menschen im Lande, egal welcher Couleur, lautstark: Integration. Nur: wie soll die gelingen, wenn der Vater zwar jetzt als Asylant anerkannt ist, in einem Integrationskurs Deutsch lernt, in einem Betrieb Arbeit gefunden hat – aber nur über sein mobiles Telefon und skype seine Kinder sehen kann, mit seiner Frau ein paar Worte wechselt. Das ist unmenschlich, das fördert keine Gemeinsamkeit. Das vertieft den Graben. Will das die Politik? Wollen wir das?

Neben der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, wobei die meisten, die sich darüber aufregen, damit die Bundeskanzlerin meinen, wird immer wieder ein Frust in den Neuen Bundesländern, im Osten angeführt für diese Wahlergebnisse. Ohne Zweifel: Es herrscht viel Frust in den Neuen Ländern.

Ich habe gerade in Schwerin einen Vortrag bei einer LehrerInnen-Fortbildung gehalten. Engagierte, selbstbewusste Frauen zwischen 29 und 45 Jahren. Die Thematik meines Vortrages ging über Länder, in denen Frauen nichts wert sind. Afghanistan, Indien, der Ost-Kongo. Die Zielvorgabe war, wie diese Themen in den Unterricht von 16-17jährigen integriert werden können. Abends haben wir dann heftig weiter diskutiert. Die Frage war: sind wir zusammen gewachsen? Ist es gelungen, das gemeinsam leben? Nein, ist es nicht, darüber waren wir uns am Ende des Abends dann leider einig. Und die Leiterin des Seminars hat mir am kommenden Morgen folgendes geschrieben:

Vielleicht spielt bei vielen Menschen hier auch die Erkenntnis eine Rolle, dass sie keine Biografie mehr haben dürfen. Wir beide - damit meinte sie sich und mich - haben in einem Staat gelebt, den es nicht mehr gibt. Sie, so schreibt sie, in einer Diktatur, überlebt, rückständig. Aber wir alle hatten auch Freundschaften, Menschen, Erlebnisse. Ein Leben, das nun nicht mehr wahr sein soll, sein darf? Es war alles mehr Verdrängung als Aufarbeitung, schreibt sie weiter. Viel Desillusionierung, Arbeitslosigkeit, alles brach weg, das ganze Leben geriet aus den Fugen“......

Es war eine lange mail, die ich mehrfach und betroffen gelesen habe. Die junge Lehrerin macht mit den anderen jetzt Projekte in der Schule. Ihre Schüler, so erzählt sie, sind ja die dritte Generation, nach der DDR. Ihre Großeltern haben die Wende herbei geführt. Jetzt endlich fragen sie diese: Wie war das eigentlich? Welche Zukunft haben wir?

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping von der SPD entdeckte das Thema Ostbürger und Flüchtlinge im vergangenen Herbst. In einer der vielen Diskussionsrunden über die Integration der Flüchtlinge fragte ein ostdeutscher Zuhörer ganz direkt: “Warum integriert ihr nicht erst mal uns?’“

Ihr- und Wir- die entscheidenden Wörter. Bevor wir von einem „WIR“ reden können, ist wohl noch viel zu tun. Vor allem „Zuhören“. Einander ernst nehmen. Immer wieder habe ich diese bitteren Bezeichnungen „Besserwessi“ aber auch „Jammerossi“ gehört. Das bringt uns nicht weiter. Dabei dürfen wir uns ruhig mal wieder die jüngere Geschichte, also nach dem Zweiten Weltkrieg, in Erinnerung rufen. In den 50er Jahren kamen die Gastarbeiter aus Italien und Griechenland. Weil sie Jobs suchten und fanden. Tausende sind geblieben und bereichern nicht nur gastronomisch unser Leben. Sind Chefredakteure wichtiger Zeitungen geworden, in der Politik engagiert, haben Führungspositionen in der Wirtschaft. Oder der Bosnien-Krieg. Wo Deutschland 200 000 Menschen – überwiegend Frauen - erst eine Duldung und später ein Bleiberecht erteilt hat. Auch von Ihnen sind Tausende noch hier. Wer guckt da noch drauf und bemerkt eine Fremdheit? Oder die 2,4 Millionen Russland-Deutschen, die in den 90er Jahren hier ankamen. Wo zwar heute einige sagen: Ihr habt uns kein „warm-welcome“ Schild entgegen gehalten. Es mag sein- aber sie sind integriert. Wenn sie auch überwiegend noch lieber Russia Today sehen. Und in Baden-Württemberg rechts gewählt haben. Oder die 3,5 Millionen Deutsch-Türken. Von denen viele - wohl versorgt in Deutschlands Demokratie - Erdogans Regime gewählt haben.

Wir sind also eine vielfältige Gesellschaft. In der wir einander anerkennen müssen in all unseren unterschiedlichen Positionen. Denn auch inzwischen die 10 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte sind alles andere als homogene Gruppen. Dabei wiederholt sich Geschichte: Gerade die „früheren“ Migranten sehen die später nachfolgenden Einwanderer höchst kritisch und ihre eigenen Positionen gar als bedroht. In diesem Fall: durch die Flüchtlinge. Sie haben einfach Angst, dass ihnen die gerade erst angekommen jüngeren Migranten etwas wegnehmen könnten.

Was wir aus meiner Sicht in Deutschland vor allem brauchen für ein friedvolles Miteinander, das ein „gemeinsam leben“ ermöglicht: das ist ein Einwanderungsgesetz. Wie es schon der weitsichtige ehemalige verstorbene Bundespräsident Richard von Weizsäcker gefordert hat: Asyl für die, die verfolgt werden, und Einwanderung für die, die wir brauchen können. Warum ist das so schwer auf den Weg zu bringen? Dazu bedarf es mutiger Politiker, die sich daran machen, die Gräben zu schließen. Zwischen Arm und Reich. Zwischen Ost und West. Zwischen den Geflüchteten und den Einheimischen. Die fünf Weisen haben dazu kluge Ideen entwickelt... Packen wirs an, das gemeinsame Leben. Es gibt keine Alternative....Und: Es wird gelingen. Und Danke liebe Ulrike Detmers für diese Initiative.