11.10.2015, Schule macht glücklich

Vortrag zum Geburtstag der UNICEF Arbeitsgruppe Erfurt am 11. Oktober 2016

Was für ein hübscher Titel: Schule macht glücklich. Wohl wahr. Nur- was ist, wenn Kinder nicht in die Schule gehen können, nicht dürfen? Ich komme gerade von den Recherchen zu meinem nächsten Buch "Kein Schutz nirgendwo-Frauen und Kinder auf der Flucht" zurück. Dazu war ich in den Flüchtlingslagern an der Nordirakischen und an der Syrischen Grenze, also im Osten der Türkei und im Libanon.

In keinem der Camps oder Lager gibt es ausreichenden und geordneten Schulunterricht. Im Osten der Türkei ist ja auch UNICEF nicht so aktiv. Das helfen andere NGO´s. Vor allem eben auch Frauenorganisationen. Aber die Mütter in den Militärzelten sehen sich außerstande, ihre Kinder zu unterrichten.
Freiwillige Helferinnen, und es sind auch hier die Frauen und Mädchen, aus den umliegenden Städten und Dörfern versuchen in einem Mädchen- und Frauenhaus sowas wie Fortbildungsangebote zu machen. Das ist aber weit weg von einer Schule, Da geht es um Häkeln, Nähen, Stricken, um Musizieren, Basteln und Malen. Eben etwas, das ihnen allen hilft die Zeit zu überbrücken. Denn das einzige was die Flüchtlinge aus dem Norden Iraks und aus Syrien jetzt haben ist: Zeit.

Die Türkei hat übrigens zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen, 80 Prozent davon sind Frauen und Kinder. Die Männer und Söhne haben sich auf den Weg gemacht gen Europa. Ihre Frauen und Kinder sitzen auf den dünnen Schaumstoffmatratzen in den Zelten. Einige sind glücklich und haben einen Ventilator. Andere schlafen bei rund 40 Grad im Sommer lieber draußen auf selbstgezimmerten Holzgestellen. Die Städte liefern Lebensmittel und Wasser, Decken und Hygieneartikel.. Die Lager allerdings sind meist weit weg von allen Ansiedlungen, die Flüchtlinge verlassen fast alle nicht die Camps. Die türkische Regierung spricht von 6 Milliarden Dollar, die sie für die Flüchtlingshilfe bereit stellt. Das ist enorm.

Und nicht zu vergleichen mit der Situation im Libanon. 4,5 Millionen Einwohner, 2 Millionen Flüchtlinge. Auch hier wieder: vor allem Frauen und Kinder. Der Staat ist arm, bettelarm, die Flüchtlinge bekommen weder Militärzelte, noch Lebensmittel, noch Wasser oder Decken. Sie hausen, will ich eher sagen, im ca 120 Kilometer langen Bekaa-Tal entlang der syrischen Grenze in so genannten ITSen- informal tented settlements. Bestehend aus Plastikplanen, Pappe, Holzbrettern, Zeitungen und Decken. Zu heiß im Sommer, zu kalt im schneereichen Winter. Der jetzt bald kommt.

1 278 solche ITSen sind inzwischen registriert in dem schönen und erträgnisreichen Tal. Die Familien leben zu zehnt, zu 15zehnt in einer solchen Behausung zusammen. Auch hier landesüblich auf dünnen Matratzen, mit wenigen Kissen und Decken. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es im Winter dort wird. Hilfsorganisationen stellen kleine Öfen bereit- aber so ein Ofen heizt nicht das ganze Zelt. Sie zittern und frieren, viele schon den vierten Winter hier. Und dazu kommt die Angst, dass durch den vielen Schnee, das Dach herunterbricht und sie alle unter den Schneemaßen begräbt.

UNICEF sitzt im Libanon zwar mit seinem Hauptstandort in Beirut, der zwei Millionen Stadt am östlichen Mittelmeer. Der UNICEF-Etat für Libanon liegt mit 280 Millionen Dollar im Jahr an der Spitze aller UNICEF-Ausgaben.
Aber weil sich die meisten Flüchtlinge im Bekaa-Tal niedergelassen haben, gibt es eine Dependance in Zahle´, einer hübschen kleinen Stadt am Berghang. Dort residiert Berta Travieso mit etwa 20 Mitarbeitern. Und kümmert sich um Wasser, Sanitäranlagen, wie Wasser-Latrinen, und Hygiene. Dazu stehen Kinderschutz, Gesundheit, Ernährung auf dem Programm- und vor allem: Bildung.

Im ersten Halbjahr 2015 konnten 113 000 Kinder im Bekaa-Tal in UNICEF-Schulen gehen. Rund 252 000 erhielten Schulbücher Hefte, Stifte und so weiter...nur: wenn wir uns vor Augen führen, dass 1,1 Million Flüchtlinge registriert sind, und 900 000 nicht registrierte im Libanon leben- dann wird uns schon mit einfachen Mathematik-Kenntnissen klar, dass Hundertausende der syrischen Kinder nicht zur Schule gehen, keine Bildung erhalten, in den Zelten rumsitzen oder draußen im Müll spielen.
Oder: arbeiten. Auf den Feldern.

Ich habe mich eine Woche lang in den „Behausungen", ich mag sie nicht settlements oder Zelte nenne, mit den Frauen unterhalten. Auch, warum sie ihre Kinder nicht in Schulen schicken. Die libanesische Regierung hat sogar Lehrer eingestellt und die Nachmittage frei gegeben für den Unterricht mit syrischen Kindern. Aber: die Flüchtlingskinder sprechen alle arabisch, haben in den Schulen mit arabisch begonnen. Während im Libanon englisch oder französisch in den Schulen gesprochen wird.

Aber die Mütter nennen mir noch andere Gründe: der Schulweg sei zu weit- 45 Minuten! Ich frage nach. Wieso ist das so weit? Dann kommt: der Schulweg ist zu gefährlich, vor allem für Mädchen. Sie werden von älteren Jungens angemacht, womöglich vergewaltigt, entführt. Aber einen wirklichen Fall konnte ich in dieser Zeit dort nicht recherchieren.

Die Wahrheit ist wohl die dramatisch schlechte wirtschaftliche Situation der Flüchtlingsfamilien. Die Vereinten Nationen und die angeschlossenen Hilfswerke haben die monatlichen Gelder auf 13 Dollar pro Mann, Frau, Kind reduziert. Wer kann davon bitte leben?

Grundbesitzer im Bekaa-Tal überlassen den Flüchtlingen jeweils ca. 15 Quadratmeter für ihre Behausung- einige verlangen monatliche Miete, ich habe von 200 Dollar gehört, was mir extrem hoch erscheint. Andere verlangen keine Miete, aber dafür die Mitarbeit der Frauen und Kinder auf den Feldern. Beim Zucchini-Ernten, bei der Weinlese, beim Tomatenpflücken. Oder beim Hüten und Melken der Ziegen.

Da bleibt keine Zeit für Schule. Auch meine Frage nach einer Eigen-Organisation eines Kindergartens wird abgelehnt. Jede Frau hier hat fünf, acht, zehn Kinder. „Und die wollen sie dann einer anderen Frau überlassen, das ist zu viel. Das ist schon mir zu viel" sagen einige der Mütter.
Aber die Älteren könnten doch auf die kleineren aufpassen, dann könnten die Mütter arbeiten gehen- und nicht die Kinder ? Wird auch verworfen, abgelehnt.

Auch die Kolleginnen bei UNICEF in Zahle´sind über diese Entwicklung mehr als unglücklich. Meine harmlose Frage, den einzelnen ITSen Schulmaterial zukommen lassen ist auch nicht sehr durchdacht. UNICEF gibt allen Kindern das nötige Schulmaterial, aber „Sie müssen erst mal zur Schule kommen", in einem der weißen Zelte ankommen und den Willen haben, am Schulunterricht teilzunehmen.
Das Sprachproblem arabisch- gegen englisch oder französisch hat UNICEF auch auf der to-do-Liste: vier weitere Hilfsorganisationen unterstützen jetzt zusammen mit UNICEF Libanon 11 000 Kinder mit Sprachunterricht.

Um all die immensen Aufgaben zu erledigen gibt es in dem kleinen Land Libanon- halb so groß wie Hessen- zum Hauptbüro, und zu Zahle im Bekaa-Tal noch Büros in Tripoli der Hafenstadt, Qobayar und Tyre. Und wenn ich schon bei der Statistik bin: die Hauptspender sind für die Flüchtlinge im Libanon die Vereinigten Staaten mit 60 Millionen Dollar, dann folgen Deutschland, Kanada und Australien.

Wir alle wissen: der Winter steht vor der Tür. In der Türkei schützen wenigstens die Militärzelte- aber im Libanon? Mir wird ganz anders bei dem Gedanken. Der UNICEF-Begriff für alles, was den Winter für die Flüchtlinge überlebbar macht heißt: Winterisation. Allein dafür sind 10 Millionen Dollar bereitgestellt.

Diesmal aber: keine Materialien, sondern Geld. Für jede einzelne ITS. Der Shawish, das ist so was wie der Bürgermeister , soll dann verteilen und die Behausungen winterfest sichern...
Mir sagen allerdings auch Helfer von NGO´s, dass das keine gute Idee sei. Denn die Familien würden das Geld für Lebensmittel ausgeben und nicht zur Absicherung ihres settlements...das hätte sich schon vor zwei Jahren gezeigt. Nun ist das wohl die Entscheidung eines jeden Einzelnen, ob er Brot und Gemüse und Fleisch kauft für die Familie, oder die Behausung winterfest ausstattet....

Viele Flüchtlingsfamilien haben hier im Libanon noch mehr Kinder bekommen. In einer fröhlichen Runde in einem settlement mit 15 Frauen und Mädchen frage ich auch nach Empfängnisverhütung. Da lachen sie alle, einige erzählen, die Anti-Baby-Pillen, die sie bekämen, würden nicht wirken, andere sagen, dass sie trotz Spirale schwanger geworden wären. Und einige erklären mir, dass diese Kinder schließlich eines Tages die bis jetzt 250 000 Toten des Syrien-Krieges wieder ersetzen müssen...was für ein Gedanke!

Und noch ein anderes Thema hat mich bei meinen Recherchen dort sehr bewegt: einige Witwen nehmen den Heiratsantrag eines anderen, nichtgebundenen Syrers an. Der aber akzeptiert nicht die Kinder aus der ersten Ehe- und die Frau läßt ihre Kinder einfach zurück. Bei der Großmutter, bei den älteren Geschwistern...ich habe viele solcher Kinder gesehen, mit traurigen Augen, die sich verzweifelt an den Rockzipfel der völlig überforderten alten Großmutter klammern. Ich habe aber auch Frauen kennen gelernt, die nie in ihrem Leben für eine neue Ehe, einen anderen Mann, die eigenen Kinder zurücklassen würden. Das hat mich dann wieder ein wenig versöhnt mit diesen Geschichten.

Jede der Frauen, denen ich begegnet sind, hat so viel erlebt, so viel Grausames durchlitten, dass es ein ganzes Buch füllen würde, haben sie mir jedenfalls immer versichert. Von der Flucht reden sie nicht gerne. Auch nicht von den Streubomben, die ihnen die Männer und Kinder getötet haben, von den Granaten und Schüssen in ihrem Wohnviertel. Sie hoffen auf Frieden- wissen aber auch, dass es noch lange nicht soweit ist.

Und Angst haben sie alle vor den ISIS-Terroristen. Im Norden des Libanon, ganz nahe von Baalbek, dem einst größten Sakralbau des Imperium Romanum, seien die ISIS-Kämpfer ganz nahe. Ein einziges Touristenpaar, sie kamen aus Karlsruhe, habe ich dort getroffen, die sagten: Bevor auch diese historische Tempelanlage von den ISIS zerstört wird, wollen sie es noch einmal sehen.
Das bewegt die Flüchtlinge nicht so sehr. Aber dafür die bedrohliche Nähe der Fundamentalisten mit ihren Waffen, ihren Panzern und ihren Scharia-Regeln. Das ist die aktuelle Angst. Und angeblich kämen sie auch bald in den Libanon. Ich mag mir das gar nicht vorstellen, was das für die Zukunft der Frauen und Kinder bedeuten würde...