Süddeutsche Zeitung
Es ist ein außergewöhnliches Papier, das vor nun 22 Jahren die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete: das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“, besser bekannt als UN-Kinderrechtskonvention. Damit erhält jeder Mensch auf dieser Welt unter 18 Jahren verbriefte Rechte. Zum Beispiel auf Überleben, Schutz vor Missbrauch und Gewalt, aber auch das Recht an Entscheidungen beteiligt zu werden. Quasi der Grundstein für eine kinderfreundlichere Welt. Überraschenderweise haben fast alle Staaten die Konvention unterschrieben. Bis auf Somalia und die Vereinigten Staaten von Amerika.
Deutschland unterzeichnete damals unter Kanzler Helmut Kohl . Allerdings mit Vorbehalten, die vor allem das Asyl- und Ausländerrecht betrafen. Erst im letzten Jahr, also 21 Jahre später, kassierte Angela Merkel die bisher gravierenden Nachteile für ausländische Kinder ohne geregelten Aufenthaltstitel bei der medizinischen Versorgung, bei Schule und Ausbildung bis hin zum nicht Kind gerechten Umgang in Asylverfahren und bei Abschiebungen. Damit erkennt also die Bundesrepublik jetzt ohne Vorbehalte die UN- Kinderrechtskonvention an. Was aber immer noch nicht umgesetzt wurde von der deutschen Regierung ist die Verpflichtung der Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Dabei ist die Kinderrechtskonvention nicht irgendein vages Versprechen, sondern eine völkerrechtlich bindende Verpflichtung für Staat und Gesellschaft, um das Wohlergehen der Kinder zur Kernaufgabe zu machen.
„Kinderrechte ins Grundgesetz“ fordern darum die Gruppen der nationalen Koalition, das Aktionsbündnis Kinderrechte mit dem deutschen Kinderschutzbund, dem Deutschen Kinderhilfswerk und UNICEF Deutschland. Warum ist das in Deutschland bisher nicht umgesetzt worden. Warum ist das so schwer? Der Paragraph sechs des Grundgesetzes schützt die Familie. Sie steht unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Dem Kind ist darin das Recht auf Erziehung durch die Eltern zugesichert. Die Eltern müssen das Kindeswohl bedenken. Darum wohl ist auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier der Meinung, die Kinderrechte müssten nicht explizit ins Grundgesetz aufgenommen werden. Mit dem jetzigen Familienparagraphen stünde Deutschland so schlecht nicht da.
Aber Kinder sind in diesem Paragraphen juristisch gesehen lediglich ein „Regelungsgegenstand“ der Norm, also Objekte. Vom Vorrang des Kindeswohls in diesem Paragraphen , wie er von der UN-Kinderrechtskonvention gefordert wird, kann so nicht wirklich gesprochen werden. Das beginnt schon bei ganz einfachen Entscheidungen. Wenn zum Beispiel eine Kommune lieber eine Straße und eine Brücke bauen will und nicht den längst geplanten zusätzlichen Kinderhort. Wenn Einrichtungen für Jugendliche auf Grund enger Finanzlage gestrichen werden. Aber ein Konzerthaus oder eine Oper entsteht.
Schwerwiegender sind diejenigen Fälle, in denen es um Vernachlässigung oder Gewalt geht, wenn die Polizei nicht eingreifen darf, weil die Familie geschützt ist, nicht aber das einzelne Kind. Wenn Mängel und Fehler in öffentlichen Institutionen festgestellt werden. Aber nicht geahndet werden können, weil das Kindeswohl nicht an erster Stelle steht. Wenn aber die Kinderrechte im Grundgesetz verankert sind, dann hat jedes Kind ein Recht auf Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit. Eltern müssen dann ebenso wie Schulen Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligen. Je nach Alter, oder die wie Juristen das formulieren: “ mit abnehmender Bedürftigkeit und wachsender Einsichtsfähigkeit“. Ist es das, was den Erwachsenen in unserem Land so Angst macht? Warum sind wir in Deutschland nicht bereit Kindern Rechte zu gewähren? Die Österreicher haben die Kinderrechte ohne große Diskussionen in diesem Jahr im Januar in ihre Verfassung hineingeschrieben. In den anderen europäischen Ländern ist die Forderung der Kinderrechtskonvention ebenso längst umgesetzt.
Es ist eine bittere Erkenntnis: Kinder als eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Rechten zu achten und in der Gesellschaft zu beteiligen – davon sind wir in Deutschland noch ziemlich weit entfernt. Vor gar nicht so langer Zeit haben wir in Deutschland heftig über den „Klaps“ diskutiert, der angeblich noch niemandem geschadet habe. Haben uns sagen lassen, dass eine Ohrfeige zur rechten Zeit die Dinge wieder gerade rücken würde. Dabei wissen alle, die sich mit Kindern beschäftigen, dass aus geschlagenen Kindern wieder Eltern werden, die schlagen. Kinderrechte im Grundgesetz aber garantieren eine gewaltfreie Erziehung. Das sollten wir alle wollen. Noch nie hat Gewalt einen Menschen zum Besseren verändert. Ganz zu schweigen, dass es feige und gemein ist, Schwächere und Kleinere zu schlagen. Und das sind die Kinder in ihrer Beziehung zu Eltern oder Lehrern allemal.
Erinnern wir uns noch an die Hartz-IV-Gesetzgebung. An das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Februar 2010, wonach vor allem die 2,5 Millionen Kinder, die von Hartz IV leben, besser gestellt werden müssen. Sie sollen „teilhaben am sozialen Leben, ein menschenwürdiges Existenzminimum“ zur Verfügung haben. Stünden aber die Kinderrechte im Grundgesetz dann hätten die Hartz IV-Gesetze schon von Anfang an anders formuliert werden müssen – das Kindeswohl im Blick. Da hätte sich dann niemand getraut, den Tagessatz für einen Erwachsenen zu halbieren und einem Kind zuzurechnen. Laut Kinderrechtskonvention haben alle Kinder das Recht auf Bildung. In Deutschland ist aber längst klar, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien hier deutlich benachteiligt sind. Die Forderungen nach flächendeckenden Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen mit freiem Mittagessen sind immer noch nicht umgesetzt. Staat und Kommunen drücken sich. Das Bildungspaket der Bundesregierung greift überhaupt noch nicht. Obwohl alle wissen: nur Bildung kann den Teufelskreises aus schlechten Schulnoten, fehlender Ausbildung und Armut beenden.
Damit die UN-Kinderrechtskonvention wirklich umgesetzt wird, haben die Vereinten Nationen, die Regierungen und die Zivilgesellschaften konkrete Regularien geschaffen. Das sind zum einen verpflichtende Berichte der Länder an den UN-Ausschuss in Genf. Zusätzlich zu den Regierungen werden aber auch Vertreter von nationalen Koalitionen gehört, die dann zum Staatenbericht einen so genannten Schattenbericht herausgeben. Deutschland präsentierte seinen aktuellen Staatenbericht mit einem Jahr Verspätung im April 2010. Derzeit prüft den noch der UN-Ausschuss. Dass die Kinderrechte immer noch nicht im Grundgesetz stehen, wird sicherlich kein gutes Licht auf die Situation der Kinder in unserem Land werfen. Die Politiker stehen weiter unter Beobachtung. Hoffen wir, dass es hilft.