15.09.2015, Heimat bleibt zwar Heimat- aber fremd wird sie einem doch

Tegernseer Tal

Der Möbelwagen der Umzugsfirma Schweinsteiger aus Miesbach kam im April 1972. Da habe ich meine, habe ich unsere Sachen gepackt und das Tegernseer Tal verlassen.

Leichten Herzens damals, auf zu neuen Ufern mit einem dreieinhalbjährigen Buben an der Hand, einem Baby im Bauch. Ich wusste ja andererseits: die Eltern sind noch da, in Rottach-Egern im Jahnweg. Das Grab auf dem Ringbergfriedhof, gerade erst gekauft, als Ersatz für die Münchner Mammut-Grabstätte. Die Großeltern bereits „umgezogen“ an den Ringberg. Eines noch ganz fernen Tages würde ich ja dann auch wieder „heimkommen“.

Dazwischen: ein gelebtes Leben, an vielen Orten in dieser Welt. Immer wieder aber auch: heimkehren, heimkommen. Dieses Tal mit großen Augen sehen und erleben. Dazu die erstaunliche Erkenntnis: die Heimat wird fremd.

Da prangt an der gemütlichen Alten Post in Bad Wiessee ein riesiges Schild “Hautzentrum“, mit vielen Ärztenamen darunter. Die Alte Spielbank steht leer und verfällt. In Rottach-Egerns Südlicher und Nördlicher Hauptstraße springt mir der Reichtum der neueren Tal-Bewohner fast peinlich ins Auge. Die Dirndl kosten beim Greif, dem alten Trachtenhaus,  rund eintausend Euro. Die Lederröcke im Schaufenster sind da jetzt billiger. Die alte geliebte Eisdiele des ersten Italieners im Tal an meiner Schul-Bushaltestelle - Geschichte. Jetzt lockt ein Luxus-Bistro die Flanierer. Mit Luxus-Preisen. Der Schreibwarenladen Kolmannsberger zeigt dagegen beharrliches Stehvermögen. Immer noch kaufen die Kinder dort ihre Schulhefte und Stifte. Innen drin sind die Besitzer aber geschickt mit der Zeit gegangen und haben den Laden unauffällig  modernisiert. An den wenigen zu heißen Tagen im Tal schützt Air Condition mit einer Kältebrücke den Laden.

Aus dem Ort heraus schweift aber mein Blick immer wieder hinauf auf den Wallberg. Im Winter der geliebte Hausberg, wo einen der Glaslhang gefordert hat, oder die Buckelpiste im oberen Teil des Setzbergs. Im Sommer der Startpunkt zu den langen Touren hinüber zum Plankenstein, dem Risserkogel. Wo sich der Dackel manchmal in einem Fuchsbau wild geifernd vergraben hat, so dass die Schülerin verzweifelt mehrere Stunden auf „ihren“ Hund warten musste. Oder die brüchigen Felswände am Plankenstein. Die heimlich durchstiegen wurden mit den bei den Nachbarn versteckten Kletterschuhen. Damit die Mutter an den Schuhkappen nicht die Felsspuren entdeckt. So viele Erinnerungen. Und alle so lange her.

Wer im Sommer durch das Tal und rund um den See fährt, hat das Gefühl: die Menschen hier feiern nur. 19 Waldfeste gibt es, wie schon immer „die Hirschbergler“, oder der Skiclub Rottach. Die „Wallbergler“ und der Trachtenverein Bad Wiessee. Dazu drei Seefeste mit jeweiligem Brillantfeuerwerk.

All das ist nicht neu, das hat uns Kinder und junge „Deandln“ auch schon angelockt. Nur- so viele waren es damals wirklich nicht. Waldfeste und Seefeste- vor allem heute für die Gäste und „Zuagroasten?“

Das bringt mich in meinem Sinnieren über die Heimat zu einem wunden Punkt. An so vielen Häusern sind die Rollos heruntergelassen, die Fensterläden zu. Alle in Urlaub? Nein- das sind die Wohnungen und Häuser derjenigen Neubewohner des Tales, die hier ihre Ferien oder ihr „drittes Leben“ verbringen. Ich nenne diese Zeit bewusst nicht „Ruhestand“ oder „Pensionszeitalter“. Das erscheint mir nicht mehr zeitgemäß. Diese Menschen sind viel zu gesund und zu aktiv. Aber wer sich im Tal oder ein wenig außerhalb eine Immobilie zulegt, muß schon  was auf dem Konto haben. Denn die Grundstücks- und Immobilienpreise gehören zu den höchsten in ganz Deutschland. Und das nicht erst jetzt, sondern auch während des Dritten Reiches legten die Bonzen des Hitler-Regimes ordentlich viel Geld auf den Tisch um dann am „Lago die Bonzo“ residieren zu können.

Was aber ist mit den Einheimischen, den jungen Menschen, die „daheim“ bleiben möchten, sich hier eine Existenz aufbauen und Wohnraum brauchen? Schon zu meiner Zeit, als junger Reporterin des Münchner Merkur, entstand das sogenannte „Weilheimer Modell“. Das es den Einheimischen ermöglichen sollte, günstiger Grundstücke zu erwerben. Im Tegernseer Tal jedoch scheint das nicht zu greifen. Wie ist es denn sonst zu erklären, dass die Grundschulen rund um den See kaum mehr Kinder zum Einschulen haben? Dass das Gymnasium Tegernsee deutlich weniger Schüler unterrichtet als noch vor 30, 40 Jahren? Wo ist die Jugend? Einen Skandal finde ich es auf alle Fälle, wenn die Tegernseer Abiturienten für ihre Abi-Feier aus Kostengründen nicht im Tal feiern können, sondern ausweichen müssen? Weil die Lokale im Tal alle viel zu hohe Preise verlangen? Was nützt den Jungen da die Werbung von „gastronomischer Vielfalt“, mit den „feuchtfröhlichen Cocktails im Alm-Chalet“?

Ich will nicht den vermeintlich “guten alten Zeiten“ hinterherjammern. Das Tegernseer Tal ist unverändert einer der schönsten Plätze auf der Welt. Die Menschen in den Straßen beim Einkaufen sind unverändert freundlich. Die Bürgermeister der Talgemeinden bemühen sich allesamt redlich, die jungen Menschen im Tal zu halten. Auch schon zu meiner Zeit war es nervenaufreibend im Sommer mit dem Auto um den See herum fahren zu müssen. Neu sind allerdings die hervorragend gut ausgebauten Radwege. Aber wer berufstätig ist im Tal, kann nicht immer mit dem Radl unterwegs sein.

Was ist es also, das diese beobachtende Position der ehemaligen Rottacherin ausmacht? Woher kommt sie, diese distanzierte Sichtweise. Warum schlägt mein Herz nicht ganz oben am Hals, wenn ich “heimkomme“? Vielleicht- weil in all den Jahren Heimat fremd wird. Weil es eben nicht nur „die ville Jegend“ ist, wie der Berliner schon sagte, wenn er als „IIA in Oberbayern“ unterwegs war. Ich kenne einfach nicht mehr viele Menschen hier, die Eltern liegen friedlich auf dem Ringbergfriedhof, mit Blick auf den Wallberg. Von meinen ehemaligen Freundinnen und Freunde sind viele in München hängengeblieben. Mit einem „Wochenend-Domizil“ im Tal. Beim Klassentreffen erkenne ich einige erst wieder, wenn sie reden. Von früher, von der Schule, von den Lehrern. Erst auf intensives Nachfragen erzählen sie von ihrem Leben „dazwischen“. Die meisten von ihnen haben das Tal für diese Lebenszeit verlassen.

In einem Geschäft nehme ich das Magazin fürs Tal: „Unser Tegernsee“ in die Hand. Mit 14 Seiten Dirndl-Mode. Auch die hat sich verändert. Das Salzburger Dirndl scheint weiter auf Erfolgkurs. Nur ein einziges Bild in dieser Fotostrecke zeigt das so hübsche Tegernseer Dirndl mit dem Spenzer, dem Schoßerl und dem dazu passenden Rock samt Schürze. Ohne Bluse darunter und ohne „Gschnas“, wie man in Wien zu einem „zu viel“ an  Rüschen und Schleifen sagt. Ich gestehe, dass ich auch keines mehr im Schrank habe. Eigentlich schade.

Ein letzter Blick ins Tal, von Kaltenbrunn aus, auf den See, den Wallberg und das Tegernseer Kloster. Endlich gibt es hier am Nordende des Sees wieder eine gute Gastronomie, sogar einen Etage tiefer ein  Selbstbedienungsrestaurant mit günstigeren Preisen. Und die großen Wiesen rundum direkt am See. Das hat sich nicht verändert. Diese Wiesen dürfen nicht verkauft, nicht bebaut werden. Da sind die Kreisbaumeister davor. Vehement, wie schon seit Jahrzehnten. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass im Tal und im Landkreis nur im seit Jahrhunderten verbürgten Baustil gebaut werden darf. Ein Erfolg, der gar nicht hoch genug zu schätzen ist. Wie schnell ist eine Landschaft verschandelt- das ist wenigstens im Tegernseer Tal und im gesamten Landkreis nicht passiert. Das versöhnt. Und: Heimat bleibt Heimat.