15.08.2016, Frauen und Kinder auf der Flucht. Annäherung an eine gegenwärtige humanitäre Katastrophe

Maria von Welser, Publizistin und TV-Journalistin, Komitee-Mitglied UNICEF Deutschland und stellvertretende Vorstandsvorsitzende a. D., im Gespräch mit Alf Christophersen

Alf Christophersen: Wir haben etwas Gemeinsames: die Nähe zu Bayern. Ich würde zu Beginn gerne einmal von Ihnen hören, wie Sie Ihre eigene Jugend einschätzen, was für Sie die charakteristischen Punkte gewesen sind, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken.

Maria von Welser: Ich bin in München geboren. Mit fünf Jahren haben mich meine Eltern aufs Land verfrachtet. So unter der Überschrift: in der Stadt kann man kein Kind großziehen. Ich bin zwischen Rottach-Egern und Kreuth groß geworden, unter dem Wallberg, in einer katholischen Umgebung. Ich war protestantisch getauft. Das war der erste Schock. Der Pfarrer hatte aber freundlicherweise Mitleid mit dem kleinen Heidenkind und hat mich in der Volksschule, wie es damals hieß, an dem Religionsunterricht teilnehmen lassen. Ich bin im Prinzip evangelisch getauft, aber katholisch groß geworden.

Am Tegernsee bin auch auf dem Gymnasium gewesen – ein wunderbares herrliches Kloster, 746 gegründet von Ottokar und Adelbert, später ein Benediktinerkloster; auch Walther von der Vogelweide war dort zu Gast. Mit solchen Mauern und solchen Gedanken und einem wunderbaren Deutsch- und Geschichtslehrer groß zu werden, das prägt fürs Leben.

 Christophersen: Sie waren sehr sportlich?

 von Welser: Was macht man sonst in den Bergen? Auf den Berg gehen? Im Winter runterfahren, im Sommer im See schwimmen oder Freunde haben, die ein kleines Schifferl haben mit einem Segel drauf, nur ins Bräustüberl gehen, ist nicht abendfüllend.

Christophersen: Nach dem Studium ging der Weg nach München und zum Bayerischen Rundfunk und auch zur Presse. Sie waren an verschiedenen Punkten dort tätig, über lange Jahre, und haben sich eingearbeitet in ganz verschiedene Segmente des Journalismus.

von Welser. Ich war vorher beim Münchner Merkur in der Redaktion „Seegeist“ am Tegernsee und später im Miesbacher Merkur, wo Ludwig Thoma geschrieben hat. Ich habe schon in der Schulpause meine Artikel – verbotenerweise den Schulhof verlassend – in der örtlichen Zeitung abgegeben, mit 15 Jahren. Ich wollte immer Journalistin werden. Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, dass ich immer wusste, was ich wollte, dass ich irgendwo angefangen habe, zu schreiben. Bis ich dann beim Bayerischen Rundfunk war, das war ein langer Weg. Ich war fünf Jahre beim Merkur, sechs Jahre bei der Abendzeitung und bin dann zum Bayerischen Rundfunk gegangen.

Christophersen: Ich habe mir das noch einmal sehr genau angesehen, was Sie beim Bayerischen Rundfunk gemacht haben. Sie haben unterschiedlichste Segmente abgedeckt. Aber es taucht auch immer wieder etwas auf, das durchaus ins Politische hineingeht. Sie haben ein bisschen geschwankt eine Zeit lang, so sieht es von Außen aus. Was ist Ihr Hauptgebiet, und wo fühlen Sie sich am wohlsten? Habe ich damit Recht, dass Sie das Politische nicht ganz sein lassen können?

von Welser: Das Private ist politisch, das Politische ist privat. Vielleicht ist sogar eine Frauenzeitschrift wie die FREUNDIN oder die BUNTE irgendwo politisch in den Auswirkungen und in dem Einfluss. Ja, natürlich habe ich auch über politische Themen berichtet.

Christophersen: Und dann gibt es noch ein Motiv, das wir ausgelassen haben im Hinblick auf Ihre Familie, nämlich dass Sie eine sehr starke Mutter, eine sehr selbständige Mutter hatten. Das wird von Ihnen selbst hervorgehoben.

von Welser: Meine Mutter hatte einen Beruf, den hat sie auch ausgeübt. Sie hatte auch einen Mann und eine Tochter, zwei Töchter aus der ersten Ehe. Und als ich dann geheiratet habe, sehr früh, weil ich früh Kinder haben wollte, habe ich nicht gewusst, wie schwierig es in Deutschland ist, einen Beruf zu haben, Kinder zu haben und Familie zu haben. Meine Mutter hatte sich natürlich anders organisiert. Sie wusste ehrlich gesagt nicht, ob im Kühlschrank die Butter ist oder nicht. Das hat sie anders gemacht.

Wenn man als Tochter einer solchen Mutter aufwächst, dann will man das natürlich anders machen als die Mutter und natürlich besser als die Mutter. Aber unter dem Strich, kommt man ins andere Gegenteil. Ich habe mich ein bisschen überfordert im Beruf, mit Kind und Mann. Es war nicht alles toll. Da war ich nicht so gut. Da war sie besser, das hat sie besser organisiert – mit einem größeren Abstand, mit einer größeren Gelassenheit. Mich hat es insofern geprägt, weil für mich einfach klar war, dass man das machen kann. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich nicht auch immer meinen Beruf ausüben würde.

Christophersen: Da sind schon ein paar Sollbruchstellen enthalten, in dem was Sie sagen, wenn ich das einmal spiegele mit den Äußerungen, die Sie auch in Interviews und biografischen Selbstaussagen gemacht haben, dann ist es schon so, dass Sie ab einem gewissen Punkt ganz klar deutlich machen, und das finde ich sehr eindrücklich, wenn man Sie heute erlebt, ganz etabliert und durchsetzungsstark, dass eine Biografie auch schwankt. Das hat mich sehr beeindruckt, dass es Ihnen durchaus um einen Existenzkampf gegangen ist.

von Welser: Das war später, als ich geschieden wurde. Dann war ich eben alleine zuständig für meine Kinder. Selbstverständlich habe ich die Kinder immer behalten. Dann habe ich mich fest anstellen lassen, und dann wird das eben sehr eng, wenn der geschiedene Mann der Meinung ist, du hast mich verlassen, ich habe dich nicht verlassen, also zahle ich nicht. Übrigens ein häufiges Verhalten von Männern, auch wenn es Gerichtsurteile gibt, die muss man möglicherweise noch einmal einklagen. Dann wird das tägliche Leben schon mühsam. Dann hat man einen gewissen Betrag zur Verfügung. Am Freitagabend haben wir überlegt, gehen wir entweder zum Italiener oder ins Kino, beides wäre nicht gegangen. Aber es ist auch eine gute Zeit gewesen. Es hat uns sehr eng zusammen geschweißt. Ich finde es nicht schlimm, Zeiten zu erleben, wo man rechnen muss.

Christophersen: Sie sind für viele eine feste Größe und auch ein Orientierungspunkt gerade für Frauen, wenn es darum geht, in einer männerdominierten Berufssparte, die der ja Journalismus durchaus auch ist, sich durchzusetzen. Mich würde umgekehrt, wenn wir gerade biographisch unterwegs sind, einmal interessieren, ob Sie auch Leitgestalten gehabt haben – so etwas, das Sie selber in gewisser Weise jetzt sind?

von Welser: Ich hatte immer beeindruckende männliche Intendanten, die mir auch etwas zugetraut haben, die mir Mut gemacht und die mir Aufgaben zugetraut haben – insofern, dass sie mich gefragt haben, ob ich die Aufgaben übernehmen würde. Und ich habe dann ja gesagt und nicht lange gezögert. Ich habe später konsequent Frauen gesucht, um sie zu fördern, und habe sehr oft drei Antworten bekommen: Es passt im Moment nicht in meine Lebensplanung. Die zweite Antwort war: Das trauen Sie mir zu? Und dritte Antwort: Da muss ich jetzt erst einmal mit meinem Mann und mit meinen Kindern reden, und ich weiß nicht, ob ich den Job annehme.

Ein Mann, dem so ein Job angeboten wird, würde solche Antworten nie geben. Als mir Intendanten Aufgaben angeboten haben, habe ich ja gesagt und zugepackt und habe es gemacht. Ich denke, wir sind in einer Zeit, wo es zu wenige Frauen in Spitzenpositionen gibt. Wir müssen irgendwie den Frauenanteil erhöhen. Aber wenn da nicht der Wille ist bei den Führungspersönlichkeiten, auch Frauen zu fördern, wird es schwierig. Alle Leitungspositionen im privaten und öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen sowie bei den Tageszeitungen sind zu 92,7 % von Männern besetzt. Ich will jetzt nicht sagen, das sind die besseren oder schlechteren, sondern sie haben eine andere Sichtweise auf die Themen, das ahnt man. Deswegen kommen sehr viele Frauenthemen nicht vor. Aus meiner Sicht wirklich ein Defizit in den Sendern, in den Zeitungen und auch in den Magazinen.

Christophersen: Sie haben dezidiert versucht, Frauen zu fördern.

von Welser: Die Frauen, vor allem wenn sie nicht angestellt sind, haben Angst um ihre Jobs und um ihre Zukunft. Deswegen habe ich versucht, den Frauen sowohl im Bayerischen Rundfunk als später im ZDF und in den letzten sieben Jahren bei der ARD klarzumachen, dass sie sich anstellen lassen sollen. Mit der Anstellung hat man einfach eine andere Sicherheit, mit der Anstellung hat man Einfluss auf das Programm, auf die Inhalte, was ich auch für wichtig erachte. Es sagt dann nicht irgendein mittelmäßiger Redakteur, was sie zu tun haben. Die Männer, die sie alle im Fernsehen sehen, sind fast alle fest angestellt. Und die Frauen, die Sie sehen, ich kann Ihnen die Namen nennen, sind es nicht. Einige haben jetzt eigene Talkshows, sie konnten dann ein Unternehmen gründen. Sie haben dann dadurch eine andere Möglichkeit, indem das vom Sender so bezahlt wird. Aber die meisten Männer, die Sie sehen, haben eine Festanstellung, eine Altersversorgung, eine Absicherung, und später wirklich eine horrend gute Rente. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass es überwiegend Männer sind, die Programme machen, die fest angestellt sind.  Wir haben 52 % Frauen in diesem Land, das erschließt sich mir eigentlich nicht.

Christophersen: Wir machen eine Zäsur. Frau von Welser, Sie haben, so mein Eindruck, ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsempfinden. Und: sie setzen sich konsequent ein, wenn Sie mit Notlagen konfrontiert werden.

von Welser: Ich habe mich schon immer aufgeregt, wenn Unrecht geschieht, ich bemerke immer wieder, dass vor allem auch Frauen Unrecht geschieht, und das hat mich sehr früh schon bewegt und aufgeregt. Ich habe damals – leider muss ich sagen – bei Mona Lisa belegen müssen, dass 50.000 Frauen in dem Krieg in Bosnien von der serbischen Soldateska als Kriegsziel vergewaltigt wurden. Das wird mir nicht mehr aus dem Kopf rausgehen. Ich habe nach den Jahren jetzt in der ARD als Direktorin für Fernsehen und Hörfunk beschlossen, dass ich mein sogenanntes drittes Leben, und ich nenne es bewusst nicht Ruhestand, ich finde es ein ganz furchtbares Wort, ich bin keine Pensionistin oder Ruheständlerin: ich habe ein drittes neues Leben begonnen und habe mich genau diesen Themen gewidmet und habe mich auf die Suche und auf die Recherche gemacht, mit den Frauen zu reden, Frauen eine Stimme zu geben, gegen Gewalt, weltweite Gewalt gegen Frauen. Die Südamerikaner haben ja ein bitteres Wort dafür, sie sprechen von einem Femizid. Ich war in diesen Ländern, und es scheint so zu sein, es ist unglaublich, was da passiert. Wir leben in einer Oase der Seligen in Deutschland. Wir können wirklich glücklich und zufrieden sein, wie wir leben dürfen und können. Wenn man es sich überlegt, wie es anderen Frauen und Kindern weltweit geht.

Christophersen: Das geht so ein bisschen in die Richtung eines großen Privilegs.

Es gibt viele Bilder von Ihnen, von allen möglichen Ecken und Enden der Welt, auch aus dem größten Chaos. Man sieht es Ihnen an, dass es Sie durchaus auch anspannt. Sie wissen, was dort passiert, und trotzdem sind Sie mit Ruhe und Zuversicht dabei, wenn Sie sich dort aufhalten. Erkennbar ist ein enormer Elan, wenn Sie sich auf den Weg machen. Können Sie uns erläutern, wie sie konkret vorgehen, wenn sie sich auf Recherchereise begeben, weit ab der Zivilisation. Wie lange dauert so etwas? Wie planen Sie diese Fahrten? Wie suchen Sie sich die Ziele aus? Wie werten Sie die Ergebnisse aus?

von Welser: Da müssen wir unterscheiden: Meinen Sie jetzt  Recherchen fürs Fernsehen oder jetzt für meinen dritten Lebensabschnitt?

Christophersen: Ich meine für Ihre Bücher.

von Welser: Da bin ich jetzt Alleinunterhalter. Ich habe kein Büro mehr, keine Sekretärin, keine Referentin, keinen Fahrer. Das ist in Ordnung so. Ich organisiere mir das selbst. Wenn Sie vielleicht dieses Buch ansprechen „Wo Frauen nichts wert sind“. Auf dieses Thema bin ich gekommen, weil ich bei UNICEF sieben Jahre im Vorstand war, stellvertretende Vorsitzende. Da gibt es bei den Vereinten Nationen eine Liste, die heißt: „Wo ist es am gefährlichsten, als Mädchen geboren zu werden?“

Es beginnt mit Afghanistan, als zweites Land kam Indien und als drittes Land der Kongo. Über Indien habe ich mich sehr gewundert. Ich war früher schon einmal für Mona Lisa in Indien, das war nicht toll, aber dass es so gefährlich ist, das war mir nicht bewusst. Und dann habe ich begonnen. Erst einmal muss man einen Verleger suchen, der das dann auch druckt. Dann habe ich angefangen, zu recherchieren. Und das dauert etwa vier bis fünf Monate. Das schwierigste ist es, die Kontakte vor Ort herzustellen, aus Deutschland heraus übers Telefon, über Skyp, über E-Mail, und dann Übersetzer zu finden. Frauen reden ja nicht gerne, wenn ein Mann übersetzt – logischerweise. In Afghanistan können 80 % der Frauen nicht lesen und nicht schreiben. Jetzt suchen sie eine Afghanin, die englisch kann. Wir haben es gemacht, ich habe es hinbekommen. Aber das ist in all den Ländern ein bisschen schwierig. Dann fliegt man dort hin und überall ist es ganz anders. Ich bin dann wie ein „kleines Kind“. Ich bin alleine mit der Übersetzerin und mit dem Fahrer. Mehr sind wir nicht. Wenn sie fürs Fernsehen unterwegs sind, haben sie einen Kameramann, einen Tontechniker, sie haben eine Ortskraft, mindestens einen Fahrer mit einem Minibus oder vielleicht jemanden, der sie bewacht, weil die Regierung der Meinung ist, dass sie da nicht recherchieren sollten. Da existiert immer ein größeres Team, und damit sind sie auch ein bisschen unbeweglicher. Mir ist es sehr recht, dass ich ganz reduziert unterwegs war mit einer Kamera, manchmal mit einem Fotografen, mit einem Notizbuch. Drei – vier Monate Vorbereitungszeit, kurze Aufenthaltsdauer, schnell wieder heraus.

Christophersen: Die kurze Präsenz vor Ort leuchtet mir ein. Je länger die Vorbereitung desto präziser dann der Aufenthalt?

von Welser: Sie sind ja auch Ziel, wenn Sie dort anfangen, zu recherchieren und Gespräche zu führen, kann es ja einigen nicht so gefallen. Im Kongo sind mindestens 51 verschiedene Milizen unterwegs, die die Dörfer überfallen, die auch die Krankenhäuser überfallen. Wenn man über sie redet, sind sie nicht mehr unbedingt sicher. Das gleiche gilt für Afghanistan, wenn man dort zu lange ist. Ich habe immer versucht, ganz schnell wieder herauszukommen.

Christophersen: Wenn Sie mit dem Schreibblock herumgehen, fordert das ja Genauigkeit, weil man nur das notiert, was essentiell ist, also eine hohe Form der Konzentration. Und was kommt dann? Dann sind Sie zurück, Sie gehen an den Schreibtisch und fangen an zu sichten? Oder wie geht das?

von Welser: Ich reise mit meinem Laptop und setze mich abends im Hotelzimmer hin und schreibe alles nieder. Ich schreibe Tagebücher von meinen Erlebnissen, weil mich manches natürlich berührt, manches bedrückt und weil ich besser schlafen kann, wenn ich mir alles aufgeschrieben habe, und weil ich dann frei bin für den nächsten Tag. Ich stelle die Berichte sofort auf meine Web-Seite: Tagebücher aus den Ländern mit den Fotos. Das ist dann schon einmal gesichert, da kann mir niemand meine Fotos nehmen (s. www.mariavonwelser.de).

Christophersen: Ihre Homepage ist unglaublich detailreich und trotzdem übersichtlich. Man kann sich da gut hin und her bewegen und bekommt einen ganz plastischen Eindruck von dem, was hier gerade beschrieben wird. Worauf ich noch hinaus möchte, bevor ich einen anderen Dreh versuche, ist Ihr Buch „Kein Schutz nirgends – Frauen und Kinder auf der Flucht“. Könnten Sie das einmal näher skizzieren?

von Welser: Es war im März 2015, als mich die Vorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag gefragt hat, ob ich nicht zum Weltfrauentag – im Bayerischen Landtag immerhin – eine Rede halten könnte über „Frauen auf der Flucht“. Damals begann die Fluchtwelle erst. Der große Peak war ja dann im Sommer. Ich begann zu recherchieren und schon damals zeichnete es sich ab, dass überwiegend Männer fliehen. Für mich war die Frage, wo sind die Frauen? Was ist mit den Frauen und Kindern? Am Ende des Jahres waren es 75 % Männer, die in Deutschland angekommen sind. Ich hatte dann letztes Jahr im Herbst angefangen, in die Türkei zu reisen in die Flüchtlingslager, in den Libanon zu reisen, nach Jordanien zu gehen, und war jetzt gerade im März auf Lesbos, vor dem 20. März als das EU-Abkommen in Kraft trat zwischen der EU und der Türkei. Ich habe dort die Frauen gefunden. Die sitzen in den Lagern mit ihren Kindern, hoffnungslos, unter zum Teil dramatischen Lebensbedingungen. Vielleicht ein paar Zahlen zum Vergleich. Die Türkei hat 78 Millionen Einwohner. Die Türkei hat 2,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Es sind überwiegend Frauen und Kinder. Die Männer sind geflohen, haben versucht, nach Europa zu kommen. Warum? Weil Mitte des Jahres 2015 das Welt-Ernährungsprogramm in New York kein Geld mehr hatte und die monatlichen Zahlungen an die Flüchtlinge von 26 $ auf 13 $ reduziert wurden. Von 13 $ kann kein Mensch einen Monat leben, das ahnt jeder. Da haben sich die Familien gesagt, wir können hier nicht leben und nicht sterben. Wir versuchen jetzt, dass einer von uns – der Stärkere, der Vater oder der große Sohn, der Bruder, dass man Geld zusammenkratzt, den Schlepper bezahlt, die Flucht bezahlt – sich auf den Weg nach Deutschland macht. Das Ziel war Alemania. Alle haben auch heute noch das große Ziel, die Familie nachzuholen. Der Libanon hat 4,6 Millionen Einwohner und hat zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Jordanien hat 6,5 Millionen Einwohner und hat 1,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Das muss man sich einfach von den Dimensionen her noch einmal klarmachen, wenn sich Menschen in Deutschland aufregen und auf die Straße gehen, weil 1,5 Millionen Menschen hier angekommen sind, und wir sagen, um Gottes willen, wie sollen wir das hinkriegen, das ist doch alles nicht zu bewältigen. Das hat mich umgetrieben. Es gibt 25 Flüchtlingslager in der Türkei, alle entlang der nordirakischen und syrischen Grenze, 80 % aller Flüchtlinge leben in kleinen Wohnungen, in Zimmern, in Ruinen, in Städten, in Dörfern, nicht in den Lagern. Die Lager sind relativ gut organisiert. Es gibt zum Beispiel Zelte des Militärs, relativ stabil. Es gibt Wege, die dazwischen betoniert sind, so dass – wenn es regnet – das Wasser nicht sofort in die Zelte hineinläuft. Die Kommunen sorgen für Lebensmittel, für Kleidung, für das Notwendige.

Nicht so im Libanon. Der Libanon ist ein ganz, ganz armes Land. Die Flüchtlinge, die dort hin geflohen sind, um zu überleben, haben sich sogenannte eigene Behausungen bauen müssen. Ich sage bewusst Behausungen, die bestehen aus Papier, aus Holzbrettern, aus Plastikfolien und vielleicht manchmal ein bisschen Beton. Es gibt sonst nichts. Es ist dramatisch. Wenn Sie dort hingehen und mit den Menschen reden, das sind überwiegend Frauen. Allein im Bekaa-Tal, das ist ein wunderschönes Tal parallel zum Mittelmeer, zwischen den Bergen, ein fruchtbares Tal, dort gibt es 1278 von diesen settlements, mit zwischen 80 und 200 Behausungen jeweils. Dort leben die rund 1,6–2,0 Millionen Menschen. Es ist ohne Worte. Keiner hilft ihnen und sie wissen nicht, wie sie durch den Tag kommen sollen. Die einzigen, die wirklich dort etwas tun, sind die Kinder, die gehen nicht in irgendwelche Schulen, die UNICEF oder andere Hilfsorganisationen aufbauen, sondern sie arbeiten auf den Feldern bei den Bauern, um ein bisschen was zu verdienen und so die Familie ein wenig zu ernähren. Es sind dramatische Verhältnisse. Endlich, endlich haben sich im Januar die Industrienationen in London getroffen und haben gesagt, das geht natürlich so nicht. Wir müssen versuchen, die Menschen dort zu unterstützen. Das war ein großer Fehler, dass man das Welternährungsprogramm hat vor die Hunde gehen lassen. Das war der Grund für die ganze Fluchtbewegung.

Christophersen: Damit sprechen Sie auch die Ebene der politischen Reaktion an, der Analyse. Ich würde gerne noch einmal einen Schritt zurückgehen. Das, was Sie schildern, sind apokalyptische Szenen. Wie gehen Sie emotional damit um?

von Welser: Also, ich bin in erster Linie Journalistin, da bin ich auch professionell, dann ist es mein Job, ich habe ihn mir ausgesucht und ich möchte es, ich möchte berichten darüber. Ich bin den Menschen nicht hilfreich, wenn ich dort in Tränen aufgelöst auf den dünnen Matten sitze und keine Fragen mehr stellen kann, voller Mitgefühl, da helfe ich ihnen nicht. Überall, wo ich war, das war etwas, das mich sehr bewegt hat: die Menschen in Afghanistan, im Kongo wie auch im Libanon oder in Jordanien haben gesagt, sie sind froh, dass jemand ihnen zuhört, dass jemand ihre Geschichten aufschreibt, damit keiner sagen kann, man habe es nicht gewusst. Das sind alles ganz unterschiedliche Geschichten. Ich mache in meinem Buch auch immer wieder einen Bogen, ich habe von ihren früheren Heimatstädten erzählt. Aleppo hatte 1,35 Millionen Einwohner, eine florierende Industrie  und war die Wirtschaftszentrale in Syrien gewesen. In dem Buch habe ich mir von einer Syrerin den ganzen Fluchtweg erzählen lassen; sie fliehen vor den Streubomben, vor den Truppen Assads. Sie ist erst einmal dort in den Bergen gewesen und dann ist sie mit einer kleinen Maschine nach Afrika geflohen. Khartum ist eine ganz große Zentrale für das Schleuser- und Schlepperwesen weltweit, das ist eine große Drehscheibe, dort hat sie vier Monate in einem Loch gewartet, bis sie dann endlich mit ihren fünf Kindern, vier Töchter und ein Sohn, in einem kleinen Minibus durch die ganze Wüste bis rauf nach Libyen, acht Tage und acht Nächte, gefahren ist. Sie hat das durchgestanden. Sie hat in Libyen wieder gewartet, bis sie endlich auf ein Schiff gekommen ist. Sie kennen die Geschichten. Das Schiff hatte angeblich kein Benzin mehr. Angeblich hat es keine iPhones mehr gehabt, um einen Notruf auszusenden. Sie hat nur erzählt: Sie hat gewusst, sie gehen jetzt unter, sie sterben hier. Sie hat ihren jüngsten Sohn, er war damals vier Jahre, auf die Schulter genommen. Sie hat gesagt, er sollte als Letzter untergehen. Sie hat es geschafft, sie wurden gerettet von einem italienischen Tanker. Sie sind in Lampedusa registriert worden. Diese Geflüchteten sind in Hamburg angekommen, und die Mutter hofft, dass sie irgendwann wieder in die Reihe kommt mit ihrem ganzen Leben. Sie hat sich – glaube ich – von ihrem Mann getrennt, aber darüber wollte sie nicht reden.

Christophersen: Sie haben jetzt ein Beispiel gebracht. Was mich am meisten beeindruckt hat bei den Schilderungen, die ich von Ihnen lesen konnte, ist die Darstellung der zurückgelassenen Frauen, die schwanger sind oder gerade ihr Kind bekommen haben, aber im Grunde nicht mehr gebraucht werden, die in großer Zahl existieren, also nicht nur Einzelfälle, sondern dort steckt ein System dahinter. Können Sie dieses Phänomen näher erläutern?

von Welser: Die Frauen sind mit den Kindern in den Lagern und hoffen, dass sie irgendwann einmal ihr Mann nachholen kann. Ich war im März auf Lesbos und dort gibt es verschiedene Flüchtlingslager. Lesbos hatte am Anfang bis zu 2.000 Flüchtlinge, die jede Nacht mit Gummibooten angekommen sind. Ich habe dort gestanden, ich habe das gesehen. Die Flüchtlinge sind dann in den Lagern und warten, dass sie irgendwie die Chance bekommen. Eine junge Frau mit vier Kindern hat gesagt, mein Mann hat es schon geschafft. Er ist im Saarland und hat einen Asylantrag gestellt. Er ist ein anerkannter Asylant geworden. Er hat den Sohn mitgenommen. Er spricht auch schon deutsch. Er geht in die Schule. Sie hofft, dass sie bald nachkommen kann, und zwar direkt von Athen aus nach Deutschland fliegen, nach Saarbrücken. Es gibt solche positive Geschichten. Aber im Libanon, in Jordanien und auch in der Türkei lebten die Jesiden. Diese monotheistische religiöse Minderheit ist geflohen vor dem IS. Sie haben vor genau 100 Jahren einen grauenvollen Genozid im Osten der Türkei erlebt. Deswegen fühlen sie sich in den Lagern, wo sie jetzt sind, überhaupt nicht sicher, weil sie sagen, die Muslime haben uns an den IS verraten. Es sind bis jetzt noch angeblich 1.500 Mädchen, Töchter der Jesiden, in der Gefangenschaft beim IS. Sie werden dort verkauft, sie werden missbraucht, sie werden vergewaltigt, sie werden auch mit Drogen, mit Alkohol verrückt gemacht. Es gibt Mütter, die erzählen von der Nachbarin, aber wenn du ihr länger zuhörst oder am nächsten Tag wieder triffst, dann kommt irgendwann einmal heraus, dass es die eigene Geschichte ist und die eigene Tochter ist, von der sie dann erzählt, die sie dann dort lassen muss oder will, weil sie überhaupt nicht mehr einsetzbar ist und ein normales Leben führen kann. Das sind schreckliche Schicksale. Und das sind überwiegend Frauen und Kinder, zum Teil haben sie die Kinder auf der Flucht bekommen unter dramatischen Umständen, ohne Hoffnung und ohne Zukunft. Das ist für mich einfach unfasslich. Wir sind alles zivilisierte Menschen, wir lassen das zu. Wir tun hier, finde ich, viel zu wenig.

Christophersen: Wir kommen immer mehr zu den politischen Implikation. Und es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen aus dem gezogen werden können, was Sie geschildert haben? Da gibt es ganz viele Ebenen, die gleichzeitig ineinander greifen. Für die Bundesrepublik betonen Sie an anderer Stelle sehr stark den Bildungsbegriff. Wenn Sie diesen einmal aufnehmen und vielleicht als ein Beispiel etwas umreissen könnten. Welche Rolle können Bildungsprogramme im Hinblick auf Flüchtlinge und ihre Integration spielen?

von Welser: Es geht um Bildung, aber gleichzeitig auch um den menschlichen Umgang miteinander. Meine Syrerin in Hamburg, von der ich eben berichtet habe, die Kinder, der Junge noch nicht, die Mädchen gehen in die Schule, sie sprechen fließend Deutsch inzwischen. Die Syrerin geht leider nicht in den Integrationskurs, sie lernt nicht Deutsch, was ich sehr bedauerlich finde. Sie verspricht es mir immer wieder, wenn wir uns sehen. Der Junge ist noch zu Hause, er geht in den örtlichen Kindergarten dieser Zweitaufnahmeeinrichtung. Die ist wohl organisiert. Da sind Container, es stehen drei Zimmer zur Verfügung. Der Boden ist zwar kalt. Aber es gibt ein Bad, eine kleine Küche. Ich habe gestern gelesen, dass inzwischen alle Flüchtlinge in Deutschland ein Dach über dem Kopf haben. Das ist doch schon mal was. Und jetzt kommt der nächste große Schritt, nehme ich an. Ich habe in den Berliner Zeitungen gelesen, dass Tausende Kinder nicht in die Schule gehen, weil es keine Schulplätze gibt. Das ist fatal. Das ist schwierig. Wir müssen sofort alle rekrutieren, die bereit sind, Unterricht geben zu können. Mein Mann hat sich wieder an eine Schule gewandt, um wieder Jungs zu unterrichten. Alle, die im dritten Leben sind, nicht im Ruhestand, die können da zupacken, die können etwas tun. Ich finde es auf der anderen Seite ganz wunderbar, dass 32 Millionen Menschen in Deutschland ehrenamtlich unterwegs sind, auch in Sachen Flüchtlinge. Das ist ein Wert an sich, das finde ich ganz wunderbar. Herr Gauck hat sicherlich recht, dass man darauf stolz sein kann, was sich hier bewegt. Natürlich ist es wichtig, dass Deutsch gelehrt wird, dass die Kinder in die Schule gehen, und natürlich geht Integration nicht von heute auf morgen und nicht in den nächsten zwei, drei, vier Jahren. Herr Weise von der Bundesagentur für Arbeit und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der zuständig ist für die Asylanträge, sagt, es wird ungefähr fünf bis sieben Jahre dauern, das muss man sich klarmachen, aber dann werden die alle etwas gefunden haben. Das ist mit vielen anderen Gruppierungen in Deutschland auch geglückt. Das dürfen wir nicht vergessen – gerade in Torgau, einem geschichtsträchtigen Ort, wo sich die Russen und die Amerikaner begegnet sind im April 1945. Hier war dann Schluss mit dem grauenvollen Zweiten Weltkrieg. Da gab es Millionen Flüchtlinge, die alle nach Deutschland gekommen sind. Gut, man sagt, es waren Deutsche, sie haben die gleiche Religion, aber trotz alledem, es ist geglückt, und es wird auch diesmal glücken. Natürlich wird es genau so, wie es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die sich nicht anpassen, auch sicher welche unter den Flüchtlingen geben, die sich nicht anpassen. Aber das Gros, was ich gelesen habe, 48.000 allein in Hamburg, bemühen sich sehr und sind aus meiner Sicht auf einem sehr, sehr guten Weg.

Christophersen: Das hängt natürlich auch alles damit zusammen, dass die Flüchtlingszahlen mit brachialer Gewalt reduziert worden sind. Sie haben das gerade beschrieben, was Sie erlebt haben. Es ist ja eine Scheinsituation, die erzeugt wird, weil an vielen Orten Europas einfach dicht gemacht wurde. Insofern ist das Problem schon wieder beherrschbar.

von Welser: Nach den Aussagen, die ich von meinen Kollegen der ARD gehört habe, warten in Libyen 250.000 Menschen auf ein Gummiboot, auf ein Schiff, um über Lampedusa oder über Frankreich oder über eine andere italienische Insel nach Europa zu kommen. Libyen ist ein zerfallender Staat, im Moment gibt es drei Regierungen. Es hat niemand die Verantwortung nach dem Tod von Muammar al-Gaddafi. Das ist ein vollkommen rechtsfreier Raum, ein Paradies für alle Schlepper, um viel Geld zu verdienen. Und das passiert im Augenblick. Da wissen wir noch gar nicht, was das für uns letztendlich bedeutet, wie es sich auswirkt. Aber was ich begriffen habe ist, dass mit Nachdruck versucht wird, Ländern wie Italien und Griechenland deutlich zu machen, dass dort registriert werden muss. Das war ja lange nicht der Fall. Sie haben alle durchgelassen, und sie kamen unregistriert hier an. Nach dem Schengen-Vertrag heißt es ja, mit dem ersten Schritt auf dem Boden in Europa muss man seinen Asylantrag stellen. Dann muss sich die Europäische Gemeinschaft irgendwie zusammenfinden und sich dieser Situation stellen. Das ist ein Drama.

Christophersen: Insofern ist es immer eine konstruierte Lage, die auch politisch so gesteuert ist. Da ergibt sich ja nur wenig wirklich zufällig, sondern ein Wille steckt dahinter. Natürlich ist es so, dass man mit einer geringeren Anzahl ganz anders integrativ umgehen kann, als mit viel zu vielen, aber wer will die Zahl bestimmen. Das wollen wir heute gar nicht besprechen.

Ich würde gern noch einmal von Ihnen etwas anderes wissen, etwas ganz Spezifisches, das bisher nicht zur Sprache kam. Sie bewegen sich in zwei Welten gleichzeitig, Sie sind einerseits Bundesbürgerin, andererseits gehen Sie auch hinaus, gucken sich die Welt ganz genau an. Was für ein Bild Deutschlands begegnet Ihnen, wenn Sie so unterwegs sind?

von Welser: Ich bin manchmal ganz gerührt und manchmal schäme ich mich direkt, was für ein tolles Deutschlandbild die Ausländer von uns haben. Alle kennen Angela Merkel, und alle finden sie ganz wunderbar. Damals als Selfies von ihr geschossen wurden, gingen die durch alle iPhone und mobilen Telefone dieser Welt. Die Flüchtlinge haben das Gefühl, dass sie in Deutschland eine Zukunft und eine Chance haben. Und was ist daran schlimm? Ich bin der Meinung, wir haben einen ganz großen Fehler gemacht. Wir haben kein Einwanderungsgesetz. Wir bräuchten ein Einwanderungsgesetz parallel zum Asylrecht. Das eine ist das Asylrecht für die Menschen, die verfolgt werden, die vor Krieg und kriegerischen Situationen und Krisen flüchten. Richard von Weizsäcker hat es ganz wunderbar formuliert: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, damit wir diejenigen, die wir brauchen können, auch nehmen können, und die, die uns brauchen, dass die kommen können. Eigentlich klingt es simpel. Das fehlt leider. Das würde uns in dieser Situation sehr helfen.

Christophersen: Ich wechsele noch einmal das Thema: Wir sind hier an einem geprägten Ort, der sehr viel zu tun hat mit Reformation. Es ist einer der Geburtsorte der Reformation. Die Amme der Reformation ist Torgau – wie es so schön heißt. Der Protestantismus spielt aus seiner eigenen Perspektive auch deshalb immer eine große, nicht zu zuletzt gesellschaftspolitische Rolle, weil er weltoffen ist, streitbar, sozial engagiert; Sozialprotestantismus ist so eine Wendung, die katholische Soziallehre ist auch etwas sehr breites, was jetzt verstärkt zum Ausdruck kommt, gerade in Ihrem Themenfeld. Frau von Welser, Sie haben von der Taufe gesprochen, von dem katholischen Kontext, in dem Sie aufgewachsen sind, welche Relevanz hat für Sie ganz persönlich die Religion, jetzt einmal individuell, nicht als Phänomen, das Menschen verbindet oder auch trennt.

von Welser: Ich bin ja protestantisch getauft, aber katholisch aufgewachsen. Ich bin dann 2000 konvertiert zum katholischen Glauben – ganz bewusst – und habe das große Glück gehabt, dem Mainzer Kardinal Lehmann meinen Wunsch nahezubringen. Ich habe zwei Jahre mit ihm sogenannte Konversationsgespräche führen dürfen, bis ich dann konvertiert bin. Kirchen sind für mich ein wichtiger Ort, der christliche Glaube – protestantisch oder katholisch. Ich denke, ein christliches Verhalten ist ein ganz wichtiges Motiv, um zu leben.

Christophersen: Da liegt mir auf der Zunge zu fragen, Sie sind dann zum Katholismus übergetreten, konvertiert und damit in ein System hineingekommen, das sich ja in gewisser Weise dann doch wiederum mit manchen beißt, was Sie gerade geschildert haben, im Hinblick auf Hierarchie, Rolle der Frau?

von Welser: Ich habe den flapsigen Satz gesagt: Päpste kommen und gehen, und das hat sich ja nun bewahrheitet. Wir haben jetzt im Augenblick einen Papst, auf den man richtig dankbar und glücklich und stolz sein darf, froh darüber, dass man Katholikin ist. Er bringt vieles auf den Weg. Er findet die richtigen Worte, er erreicht die Menschen, das ist doch wunderbar. Es gibt solche und solche. Ich bin der Meinung, dass man sowieso nur etwas verändern kann, wenn man Teil des Ganzen ist. Sie können wunderbar die katholische Kirche kritisieren und ihre Art und Weise, dass Frauen keine Priesterinnen werden dürfen, doch vielleicht sind Diakoninnen gerade angedacht … Es gab ja ungeheure Auseinandersetzungen über den § 218. Damals war Kardinal Lehmann eine große Hilfe mit Donum Vitae und mit all diesen Punkten und Dingen, die auch für Frauen wichtig sind. Ich finde, dass man besser kritisieren und die Stimme erheben kann, wenn man dabei ist, als wenn man das von außen tut.

Christophersen: Das gilt auch für den Protestantismus. Grundsätzlich ist es richtig, nicht ohne Not zu kritisieren. Ich halte das für eine sympathische Grundhaltung ist, weil sie aus einem Wohlwollen, so kommt es jedenfalls rüber, formuliert ist und nicht aus der Absicht, Kritik um der Kritik willen zu üben, sondern konstruktiv mit den Problemlagen umgeht. Ich finde, Sie haben durch all ihre Kontextualisierungen und Linien hindurch gezeigt, wie man bei größerem Engagement trotzdem versuchen kann, eine Ebene zu erreichen, die anderen mitteilbar ist, die unaufgeregt ist und eindeutig. Das ist ja etwas relativ Gelassenes, das gerade in dieser Entspannung einen besonderen Nachdruck hat. Frau von Welser, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!

Zur weiteren Lektüre sei auf die folgenden neueren, im Gespräch erwähnten Veröffentlichungen hingewiesen:

- Maria von Welser, „Kein Schutz nirgends – Frauen und Kinder auf der Flucht“, München: Ludwig Verlag, 2016

- Maria von Welser, Wo Frauen nichts wert sind. Vom weltweiten Terror gegen Mädchen und Frauen, München: Ludwig Verlag, 2014; als Taschenbuch im Münchener Heyne Verlag 2016