Mein afghanisches Tagebuch
Anflug über karge Berglandschaften, tiefe dunkle Schluchten, vereinzelt noch Schnee auf den Nordhängen. In dreißig Minuten werde ich in Kabul landen. In der Tasche ein hüftlanges Hemd, mit langen Armen, und das obligatorische Tuch, das die Haare bedecken soll. So viel habe ich gelesen über die afghanischen Männer- ich werde sie hoffentlich nicht irritieren.
Ende 2014 wollen die internationalen Truppen das Land am Hindukusch verlassen. Was wird dann mit den Frauen und Kinder geschehen? Ich will selbst genau hinsehen. Wie leben dort die 11 Millionen Frauen? Die Millionen Kinder? Warum sterben in keinem Land der Welt mehr Frauen bei der Geburt? Warum sind nirgendwo auf der Erde mehr Kinder mangelernährt und wachsen nicht mehr?
Viele Kontrollen, das Gepäck kommt auf dem einzigen Band relativ schnell. Aber dem Fotografen Peter Müller fehlen zwei Passbilder, die er für einen weiteren Antrag nicht dabei hat. Davon wussten wir nichts.“Neue Regeln“ erklärt uns ein ungewöhnlich freundlicher Beamter. Mit zehn Dollar löst sich auch dieses kleine Problem.
Auf der Fahrt in die staubige grau-beige Stadt kommt mir nochmals alles in den Sinn, was wir auch damals im Fernsehen bei der Bombardierung Afghanistans im Jahre 2002 berichtet haben: Auf der „Achse des Bösen“ sollte nicht nur Osama Bin Laden getötet werden, sondern wollte die NATO auch die Rechte der Frauen zurückbomben. Nach der grausamen Herrschaft der Taliban. Aber das ist nicht gelungen.
Jüngster Fall: in einem Dorf nahe Kabul wurde vor zwei Wochen eine 22jährige Afghanin erschossen, weil sie angeblich Ehebruch begangen haben soll. In einem Video auf Youtube ist zu sehen, wie ihr ein Mann in weißer Kleidung neunmal in den Kopf feuert. Auch dann noch, als sie längst zur Seite gefallen ist und regungslos am Boden liegt. Nach der Exekution schwenkt die Kamera auf die Hänge über dem Dorf: dort jubeln Dutzende von Männern und rufen „Lang leben Mudschahidin“. Monica Hauser von medica mondiale in Köln und mit einem Frauenbüro in Afghanistan vertreten, empört sich:“ Die Hinrichtung ist ein brutales Beispiel für die Auswüchse von Gewalt, die sich bei traumatisierten Gesellschaften in patriarchalen Systemen immer wieder gegen Frauen richtet“.
Das alles passiert genau während der Konferenz über die milliardenschweren Hilfeleistungen der internationalen Gemeinschaft in Tokio. 56 Staaten wollen Afghanistan auch nach dem Truppenabzug weiter unterstützen. Auch Deutschland wird mit 430 Millionen Euro dabei sein. Allerdings gegen Bedingungen: Unter anderem sollen die Frauenrechte gewahrt werden. Aber der afghanische Präsident Hamid Karsai trägt selbst die Mitverantwortung für die Leiden der Frauen. Denn er hat noch in diesem Jahr Gewalt gegen Frauen offiziell genehmigt. So heißt es in der von ihm im Internet veröffentlichten Richtlinie wortwörtlich:“Der Mann ist ein fundamentales Wesen, die Frau ist ihm untergeordnet“. Und weiter:“Die Frau hat sich den Geboten der Scharia komplett zu unterwerfen.“
Vor meiner Reise nach Afghanistan lese ich: Drei von vier Frauen werden zwangsverheiratet, meist sind sie noch keine 16 Jahre alt. Frauen sind eine Handelsware. Sie gehören den Vätern, den Ehemännern. Nicht sich selbst. In keinem Land der Welt sterben mehr Kinder und Frauen bei der Geburt. Das liegt unter anderem auch daran, dass männliche Ärzte afghanische Frauen nicht behandeln dürfen. Aber Frauen können als Ärztinnen wiederum nicht ohne die Begleitung eines männlichen Mitgliedes der Familie auf die Straße oder gar an ihren Arbeitsplatz gehen. Das ist der Teufelskreis, warum die Lebenserwartung einer afghanischen Frau bei 45 Jahren und damit unter der der Männer liegt.
Sie müssen außerdem ihren Ehemännern jederzeit sexuell zur Verfügung stehen. ( Gesetz aus dem Jahre 2009). Und schließlich: Nirgendwo zünden sich so viele Ehefrauen mit Kerosin an um sich das Leben zu nehmen. Allein in Kabul , so heißt es, werden in der Brandstation der größten Klinik jeden Tag zehn schwer verbrannte Frauen eingeliefert. Wer dagegen nicht den Tod sucht, sondern nur aus der Zwangsehe flieht, erhält keine Unterstützung bei der Polizei. Vor allem nicht, wenn die Frau mit einem anderen Mann gesehen wird. Dann werden diese Frauen wegen „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ eingesperrt.
Immer wieder rütteln dramatische Schicksale von Frauen aus Afghanistan die Menschen auf. Vor zwei Jahren als ich das ARD-Studio Tokyo leitete, das erschreckende Bild der 18jährigen Aisha auf dem Titelfoto der Times in den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie blickt mit einem Loch in ihrem Gesicht statt einer Nase scheu in die Kamera. Ihrem alten, sie schlagenden Ehemann war sie davon gelaufen. Der hatte sie aber gefunden. Ihr die Nase und die Ohren abgeschnitten und sie in den Bergen blutend zurückgelassen. US-Soldaten fanden das ohnmächtige Mädchen und brachten sie nach Amerika. Dort bemühten sich Fachchirurgen der jungen Frau wieder ein ansehnliches Gesicht und zwei Ohren anzupassen. Aber nach der Operation musste sie wieder zurück in die Heimat. Niemand weiß, wo sie heute in Afghanistan untergetaucht ist. Ich habe es während meiner Recherchen auch nicht herausgefunden.
Das Schicksal der Frauen in Afghanistan scheint in der Welt inzwischen vergessen. Da wundert es nicht, wenn bei dieser unverändert dramatischen Situation immer mehr junge Afghaninnen ihr Land verlassen. Es findet ein regelrechter „brain drain“ statt, ein Weggang vor allem der gut ausgebildeten Frauen. Das berichtet auch der britische Observer.
Was wird geschehen, wenn nach dem Abzug der Truppen womöglich Präsident Karsai auf dem Verhandlungstisch mit den Taliban als erstes die Frauenrechte streicht? Davor haben die meisten Afghaninnen Angst. Auch um ihre Kinder, von denen die Hälfte nicht den fünften Geburtstag erlebt.
Morgen erfahre ich mehr. Da treffe ich Peter Crowley von UNICEF-Afghanistan und seinen Media-Mann Alistair Gretarsson im UN-Compound in der Jalalabadroad.