26.07.2012, Teil 4: 35 Flüchtlingslager umrunden die fünf-Millionen Stadt Kabul

Mein afghanisches Tagebuch

Wir hatten eine Verabredung mit einigen Studentinnen in einer privaten Universität. Wieder durfte der Fotograf nicht dabei sein, wieder mussten Männer raus, damit sich Frauen frei fühlen und reden können. Dabei entdeckte Peter Müller zufällig ein riesiges Flüchtlingslager. Eines von 35, die sich wie ein Ring um die Stadt ziehen. Wir gehen wie magisch angezogen hinein:
Im grauen Dunst und Staub der Fünf-Millionen-Metropole Kabul sind die löchrigen Lehmhütten  kaum zu erkennen. Über eine Million Flüchtlinge vegetiert hier unter ärmlichsten Bedingungen. Die Mehrzahl davon: Kinder.

Seit Jahrzehnten in Lagern und auf der Flucht

Einige dieser Kinder winken uns, wir sollen ihnen folgen. Auf steinigen und staubigen Pfaden balancieren wir ihnen nach. 450 Familien versuchen allein in diesem Viertel zu überleben. Seit vier Jahren sind sie hier, vorher waren sie vor den russischen Soldaten aus Kunduz nach Pakistan geflohen. Ihre Hütten aus  Khak , so heißt hier der Lehm, bröckeln bei 37 Grad Hitze vor sich hin. Die Menschen versuchen in ihrer Armut noch ein Mindestmaß an muslimischer Tradition zu pflegen: ein löchriger grün-weißer Plastikteppich liegt vor der Behausung. Darüber schützt ein Dach aus Plastikplanen vor der brennenden Sonne.

Niemand hilft - manchmal bringen Nachbarn was zu essen

Ich ziehe selbstverständlich  meine dreckigen Turnschuhe  aus, bevor ich in den inneren Bereich eintrete. Ganz afghanische Gastfreundschaft wird mir ein Tschai angeboten- ein heller Tee in schmutzigen Gläsern. Es fällt mir schwer, das abzulehnen. Wovon sie hier leben ? „Nachbarn kommen manchmal vorbei und bringen Kleidung und Essen. Sonst hilft uns niemand“, erzählt mir die 52jährige Maryam, Mutter von acht Kindern. Ihr ältester Sohn hat einen kleinen Job und trägt aus einem Lebensmittelgeschäft die Ware zu den Käufern nach Hause. Die ihm dann manchmal auch etwas Trinkgeld geben.
Was das von 30 Jahren Krieg so schwer gebeutelte Land mit seinen Flüchtlingen machen wird? Keiner weiß es, keiner will es wissen. Es ist ein menschliches Drama, das sich hier neben den vielen anderen  vor den Toren Kabuls abspielt.

Väter und Männer müssen ihre Frauen in die Klinik begleiten

Die Frauen aus diesen Flüchtlingslagern werden  es nie in eine der 30 Frauenkliniken in der Stadt schaffen. Ihre Kinder kommen in den Elendshütten zur Welt.
Wenn eine Familie fortschrittlicher denkt, sucht sie den Weg zum Beispiel in die Malailai Mütterklinik im Zentrum der Stadt. Nur mit ihren Männern oder Vätern dürfen die Frauen dort erscheinen. Das ist Gesetz. Sollte eine Frau bei Geburtskomplikationen einen Kaiserschnitt benötigen- dann muss- auch das ist Gesetz - der Mann oder Vater seine Einwilligung geben. Aber:
“ Wenn wir die Einwilligung  nicht bekommen, dann machen wir trotzdem eine Sectio, um Mutter und Kind zu retten“, erzählt mir Dr. Hafiza Omarkhil. Die 40jährige Ärztin ist eine von 300 weiblichen Ärztinnen in dieser Klinik. Täglich kommen hier mindestens 200 hochschwangere Frauen an. Ihre Männer warten im Vorhof unter den Bäumen. Oft Stunden und Tage. 

Ein Lächeln, ein Baby, ein Glück

Vollkommen verdeckt vom Hidschab kommt mir eine junge Frau mit einem Bündel im Arm entgegen. Ein Lächeln von mir, ich zeige mit dem Finger auf das Bündel und sie deckt mir glücklich strahlend ihre Tochter auf. Drei Stunden alt, da geht die Mutter schon mit dem Baby im Arm nach Hause. Sie umarmt mich, was Afghaninnen sonst nicht tun. Aber ihr Glück lässt sie alle Konventionen vergessen. Wir verstehen uns von Frau zu Frau. Die Freude nach einer Geburt ist international. Da spielen Farsi oder Deutsch keine Rolle mehr. 

Nur sechs Prozent der internationalen Gelder werden für Frauen ausgegeben

Nichts wie weg- die gut ausgebildeten Mädchen wollen in Ausland
Dank der internationalen Hilfe nach dem Abzug der NATO-Truppen 2014 werden 8,4 Milliarden Dollar in das Land fließen. Aber nur sechs Prozent sollen davon für die Bedürfnisse der Frauen ausgegeben werden. Das schreibt auch die „Afghanistan Times“.Was die Politikerinnen  und Frauenorganisationen gleichermaßen empört. Maryam Faisir ist 19 Jahre alt und studiert an einer Privatuniversität Zahnmedizin. Dafür zahlt ihr Vater jeden Monat 120 Dollar, was in Afghanistan eine Menge Geld ist. Wenn sie fertig ist mit ihrem Studium will sie nichts wie weg aus dem Land:“ Am liebsten in die Vereinigten Staaten von Amerika,“ erzählt sie mir in ihrem Hörsaal. Ihre Eltern unterstützen sie. Auch in ihrem Wunsch, keinesfalls einen Mann zu heiraten, der nicht ihre Berufstätigkeit unterstützt. „Auch meine Kommilitoninnen wollen ins Ausland, Frauen sind in diesem Land wenig wert, die Sicherheit ist immer noch ein großes Problem und wie es mit der Wirtschaft weitergeht weiß auch keiner“.

Traumziel USA- im Hidschab?

Die junge Frau sieht ihr Land kritisch und klar. Dennoch scheint sie der muslimischen Religion und den Traditionen  eng verbunden. Sie trägt den persischen Hidschab, das schwarze Tuch liegt eng am Kopf an, damit  ja kein einziges Haar heraus spitzt. Ihre Füße stecken in dicken Socken in den modischen Sandalen. Trotz der heißen  37 Grad im Juli. Das wird sie wohl dann in den Vereinigten Staaten von Amerika aufgeben müssen. Schon um dort dazu zu gehören und sich nicht auszugrenzen.