28.07.2012, Teil 6: Eine Oase der Ruhe und Unterstützung:Medica Afghanistan

Mein afghanisches Tagebuch

 

Wir fahren in diesen Tagen umhüllt von Staub und Hitze von Projekt zu Projekt, von Interview zu Interview. Ich habe dann das Gefühl, zu wenig vom Leben in Kabul mitzubekommen. Mittags, bei 37 Grad machen sich darum der Fotograf Peter Müller und ich auf den Weg auf einen Markt. Es ist eine trockene Hitze, ganz gut zu ertragen. Mein Schal, mein langes Hemd und die langen Hosen stören mich allerdings ganz schön. Gerne wäre ich luftiger gekleidet. Geht aber nicht, nicht in Afghanistan. Unter eine Brücke verläuft ein Rinnsal von Fluss. Das Flussbett ist allerdings breit. Da muss im Winter dann auch mehr Wasser fließen, hoffe ich für die Menschen hier. Zwei Jungen mit langen Stöcken sammeln Abfall und stecken ihn in Säcke. Aber nicht, um dort sauber zu machen, sondern um diesen Abfall wieder zu verwerten. Jeder versucht wo auch immer ein klein wenig Geld zu verdienen zum überleben.

Die Gesellschaft in Kabul ist toleranter als auf dem Land

Auf dem Markt mischen sich die Frauen mit der Burka mit denen im persischen Hidschab, der wenigstens die Augen frei lässt. Andere gehen tatsächlich nur mit einem Tuch über dem Kopf einkaufen. Darunter das Haar streng weggebunden, mit langen Ärmeln und langen Hosen. In Kabul scheint die Gesellschaft toleranter. Auf dem Land kam mir Afghanistan frauenlos vor, nur Männergesichter und Kinder, die jetzt schon viel älter aussehen, als sie wirklich sind.
In allen Interviews erfahre ich von afghanischen Frauen das gleiche: die häusliche Gewalt nimmt zu. Aber Männer schlagen ihre Frauen nicht nur. In der letzten Zeit schneiden sie ihnen auch Körperteile ab. Finger, Zehen, und dann verbrennen sie die Glieder. Ich bin fassungslos. Immer wieder höre ich auch: Die Regierung unterstützt die Rechte der Frauen in keinster Weise. Auch wenn es ein Frauenministerium gibt.
Bei Medica Afghanistan versucht man den afghanischen Frauen zur Seite zu stehen. Wenn sie es denn überhaupt schaffen dorthin. Mit einem männlichen Begleiter, so heißt die Regel. Das Büro in einem unauffälligen Stadtteil Kabuls kümmert sich schon seit Jahren um die Afghaninnen. Masiha Fayez und Shaima Gasim  erzählen mir dort aber noch eine ganz andere Tragödie: Frauen bekämpfen sich in der Regierung untereinander. Wie ? Ich verstehe gar nichts mehr. Aber die beiden Medica-Frauen erklären es: diejenigen Frauen, die von Männern in die Regierung berufen wurden, ins Parlament geschoben – nein, nicht gewählt - die sind auf Seiten dieser Männer und damit gegen all diejenigen Frauen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen.

Die Hauptkommissarin, die nicht mit mir reden darf

Wie es einer starken Frau in dieser Männergesellschaft ergeht, erlebe ich dann am Nachmittag:
Noch steht sie selbstbewusst  an der Polizeischranke der Hauptwache in Kabul: Lailoma Ahmad,42 Jahre, Kriminalkommissarin. Eine von drei Frauen in ihrer Abteilung.  Eine von ganz wenige fRauen überhaupt in der Polizei. In ihrem Ressort sind es 230 männliche Kollegen. Sie hat mir ein Interview zugesagt. Aber es kommt anders. Zweimal geht sie rein und raus aus dem riesigen Gebäudekomplex. Inständig bittet sie unser Fotograf Peter Müller wenigstens um ein Foto. Dann steht sie fast wie eine Diebin an der mit Stacheldraht bewehrten Mauer der Hauptwache. Meine Fragen will sie später im Büro beantworten. Sie ist sichtbar unter Druck. Wir gehen jetzt hinein, durch unzählige Taschen- und Körperkontrollen. Zu oft sind in den letzten Monaten Bomben von Selbstmordattentätern vor Behörden explodiert. Hunderte von Männern laufen durch die Gänge, wir müssen zu ihrem Boss. Der ist aber nicht da. Dann zum Vize- der  sieht kaum auf. Geschweige denn dass auch nur einer der vier Polizisten in seinem Büro sich irgendwie erhebt. Wir sitzen wie vor einem Richter. Die anwesenden Herren bekommen Tschai angeboten, uns beachtet keiner. Ich will Laloma eine Frage stellen. „Später“, winkt die Übersetzerin ab. Aber ein später gibt es nicht. Der Vize schüttelt nach einer halben Stunde nur ungnädig und wortlos den Kopf, scheucht uns genervt aus seinem Zimmer. Lailoma lächelt tapfer. Ich bin fassungslos ob einer solchen Behandlung von Frauen.  Im Gang ruft sie noch: „Ich rufe Sie an, dann beantworte ich alles!“ Der Anruf kommt nie.

Sie boxen sich in die Zukunft: die Mädchen im Olympic

Anders im Olympic, dem großen Kabuler Sportgelände. Wo einst vor elf Jahren die Taliban ihre Schauprozesse abgehalten haben. Dort sind wir angemeldet, dort sind wir willkommen. 20 boxende junge Mädchen warten auf uns. Sie heißen Shafika und Faima, Shegofa und Sadaf, sind zwischen 14 und 22 Jahre alt. Ihr Trainer Mohammad Saber Sharifi ist stolz auf seine Mädchen:“Wir haben es diesmal zwar nicht nach London zu den Olympischen Spielen geschafft, aber das nächste Mal sind die Mädchen dabei !“ Davon ist er überzeugt. Dreimal die Woche trainieren sie im Zentrum. Landesüblich in T-Shirts mit langen Armen und in langen Hosen. Viele haben sich auch ein Tuch fest um den Kopf gebunden. Sie kämpfen gegen die Schatten der Vergangenheit und gegen das Misstrauen der Gegenwart. Alle Eltern mussten zustimmen, dass die Mädchen nach der Schule zum Boxtraining gehen und an Wettkämpfen teilnehmen. Meine Frage, ob alle afghanischen Frauen boxen sollten, irritiert die Mädchen.  Sie wissen natürlich um die anwachsende häusliche Gewalt. „Aber“, erklärt mir Faima:“So ist eben unsere Gesellschaft“. Zu Zeiten  der Taliban wäre boxen für Frauen undenkbar gewesen. Unter diesem autoritären Regime war ihnen jegliche sportliche Aktivität verboten. Aber auch heute noch steckt Frauensport selbst in der Millionen-Stadt  Kabul in den Kinderschuhen. So sind die boxenden Mädchen stolz auf ihre Pionierarbeit.“Seit ich boxe, fühle ich mich glücklich und frei“, sagt Shafika. Das funktioniert aber nur, weil auch ihr Vater ihre Boxkarriere unterstützt. Von der der Trainer sagt, dass sie erst ganz am Anfang steht.

Aschiana und UNICEF gemeinsam für Afghanistans Kinder

Diese boxenden Mädchen  sind eine Minderheit, quasi eine Elite unter den jungen Menschen in Afghanistan. Denn  es gibt Hundertausende anderer Kinder in Afghanistan, die ohne solche Chancen keine Zukunft haben. Um die sorgt sich Aschiana, eine Nicht-Regierungs-Organisation mit 180 freiwilligen Mitarbeitern.  Über 10 000 Kinder werden von ihnen betreut, erhalten Unterricht im Lesen und Schreiben, im Zeichnen, Sport oder in Musik. Die Aschiana-Mitarbeiter  gehen in die rund 35 Lager rund um Kabul. Dahin wo seit vier, fünf Jahren die Flüchtlinge versuchen zu überleben. Sie bringen Kleidung, Essen und sauberes Wasser. Alle die Dinge, um die sich eigentlich eine verantwortungsvolle  Regierung kümmern müsste. Aschiana- Direktor Mohammad Yousef ist darum auch sehr wütend:“Die afghanischen Politiker sind nicht sozial engagiert. Sie kümmern sich nicht um die Menschen hier, sondern nur um sich selbst und ihr Einkommen“. Seine bittere Bilanz   nach elf Jahren Präsenz der internationalen Truppen :
„ Was hat sich für uns Menschen hier wirklich verbessert? Es ist unsicherer, und korrupter geworden, und es sterben jetzt mehr Zivilisten als früher“. Das ist auch täglich in der „Afghanistan Times „ so nachzulesen. Die Zukunft der Menschen in Afghanistan ist nach dem Abzug der Truppen und nach den Milliarden Dollar, die ins Land gehen werden, alles andere als gesichert. Eine bittere Bilanz.

Friedvoller Abschluß: Chicken Kebab und Mangojuice

Mit Muhammad gehen wir ins sein Lieblingslokal: von außen unscheinbar, in einer Straße mit riesigen Löchern. Aber mit einem Garten wo wir auf typisch afghanischen Hochbetten im Schneidersitz Chicken Kebab und das beste Mango-Juice meines Lebens bekommen. Der Lärm, der Staub, die Hektik der Stadt bleiben hier draußen. Am Abend vor Ramadan kommen sie alle, die Kabuler, mit ihren Kindern und Eltern. Da wird gefeiert. Es ist ein versöhnliches Bild das ich am Ende mitnehme in das Flugzeug zurück nach Deutschland. Dennoch: es ist nicht gut, im Land am Hindukusch. Schon gar nicht für Frauen und Kinder.