01.12.2013, Indien

1. Tag

Die Fahrt vom superneuen Riesenflughafen in die Stadt New Delhi geht schnell: noch ist es früh am Morgen. Der leichte Nebel vermischt sich mit der Sonne zu einem geheimnisvollen Glitzern. Nur 16 Kilometer sind es für den Fahrer, der mit meinem Namenschild pünktlich am Gateausgang wartete. „Namaste“, willkommen, begrüßen wir uns gegenseitig, und verbeugen uns mit den gefalteten Händen vor der Brust. Zwanzig Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal in Indien für ML Mona Lisa gedreht habe. Was hat sich alles verändert, außer dass das Land jetzt 1,2 Milliarden Menschen zählt und einen wirtschaftlichen Aufschwung ohnegleichen nimmt ? Ich bin sehr gespannt. Vor allem, ob alle Termine klappen, die mir die wunderbare Bindu organisiert hat.

Näher im Zentrum sehe ich- lauter Männer. Mit Rucksäcken, und in warme Jacken und Pullis gepackt. Es ist Dezember und für indische Verhältnisse kühl. Wo sind die Frauen? Über die ich hier recherchieren will? Zwei, drei, gegenüber Tausenden von Arbeitern auf den Straßen. Meist kehren sie irgendwelche Plätze oder Treppen. Der Fahrer klärt mich fremdenfreundlich auf: “Die sind alle zuhause bei ihren Kindern und versorgen den Haushalt“. Na bitte.

Im Hotel erwartet mich die Producerin Bindu Lall, mit der ich jetzt wochenlang per skype schon alle Termine und Interviewpartner besprochen habe. Aber nicht nur sie tummelt sich in der immens hohen Hotelhalle. Nein, rund 400 junge Männer in sportlicher Kleidung: Weltmeisterschaften der Junior Hockey Spieler- auch Deutschland ist vertreten. Sie alle machen aus dem schicken Vier-Sterne-Hotel ein quirreliges Jugendhotel. Tut dem großen Kasten nicht schlecht....

Mittags unser erstes Interview: Charu Wali Khann, Rechtsanwältin in der Nationalen Kommission für Frauen ( NCW). Eine der führenden Feministinnen im Land. Die Bürohäuser die ich von früher kannte, haben sich jedenfalls kaum geändert: schmale, etwas heruntergekommene Treppenhäuser, Gänge mit vereinzelten Topfpflanzen am Boden zur Zierde. Wer wartet, sitzt auf wackeligen Stühlchen oder ein wenig abgenutzten Sofas. Bindu findet sofort die richtige Türe, klopft und schon werden wir herein gebeten. Die vielfach ausgezeichnete Anwältin ist wohl Mitte fünfzig. Trägt das klassische indische Churidar-Kleid, bestehend aus besticktem Kurzkleid und eng anliegender Hose. Alles in dezentem Dunkelblau. Auf meine Fragen nach der sich wohl weiterhin verschlechternden Sicherheitssituation der indischen Frau kommt eine erstaunliche Antwort:“ Es wird noch 30 Jahre, eine Generation, dauern, bis sich die Verhältnisse hier verbessert haben.“ Aber es werde gelingen, dafür stehe eine neue junge Generation, die nicht mehr so weitermachen will. Mit „so weitermachen“ meint sie wohl: vergewaltigen, Kinder zwangsverheiraten, in Kasten denken und vor allem die Ärmeren weiter so dramatisch benachteiligen. „ 90 Prozent der Inder sind alle kriminell“, schockt sie mich weiter. Damit meint sie, dass trotz des gesetzlichen Verbotes weiterhin Mitgift verlangt und bezahlt wird. Und da die Inder inzwischen zu einer unglaublichen Konsumgesellschaft geworden sind, entwickeln sich die Forderungen bei einer Hochzeit an die Eltern der Braut in abenteuerliche Höhen: Schmuck, Gold, Kühlschrank und Motorrad, eine neue Küche und gar ein neues Auto- das ist heute die Währung nach der Mädchen an die Familie des Auserwählten verkauft wird. Charu WaliKhanna sitzt weniger in ihrem Büro, als im Auto, um auf dem Land Frauen zu unterstützen. Zum Beispiel mit einfachen Anleitungen und vielen Zeichnungen . Was sie tun sollen bei häuslicher Gewalt, wenn die Männer schlagen und nicht mehr aufhören. Wie sich werdende Mütter wehren können gegen die von der Familie des Mannes geforderte Abtreibung eines weiblichen Fötus. Denn wenn auch Amnioszintese längst verboten ist, werden Tag für Tag in Indien tausende weiblicher Babys abgetrieben. Bis zum achten Monat. Deshalb leben in dem Land 37 Millionen mehr Männer als Frauen. Ein Verhältnis, das es so in keinem anderen Land der Welt gibt. Auch nicht in China trotz dessen Ein-Kind-Politik.

Über die nominell steigende Zahl der Vergewaltigungen sagt die Anwältin nur so viel: “Das hat es schon immer gegeben, das ist nicht neu. Nur: jetzt erst nimmt die Polizei eine Anzeige ernst. Inzwischen verurteilen Richter die Täter.“ Ausgelöst hat dies der schreckliche Fall im Dezember 2012. Als bei einer Massenvergewaltigung eine junge Studentin in Delhi so schwer verletzt wurde, dass sie nach vielen Operationen dann doch leider verstarb. Jetzt gibt es auch einen Gesetzentwurf, der die Menschenrechte der Frauen absichern soll. Nur- er ist noch nicht vom Parlament verabschiedet. Charu WaliKhanna fürchtet hier leider, dass dies noch länger verschleppt würde: “Es gibt in der Regierung kaum Männer, die sich dieses Themas wirklich annehmen“. Es gibt also noch viel zu tun, zu bewegen, zu benennen. Ausnahmsweise kommen auch einmal die Medien mit einem Lob davon. Weil so intensiv über die Vergewaltigungen geschrieben wird, schämen sich inzwischen auch Männer für ihr Land. Das ist doch was....

Müde und erschöpft vom ersten Tag und nach der langen Nacht im Flugzeug komme ich in meinem Hotel an. Und friere. Es ist viel kälter als vermutet. Also noch schnell rund um den Connaught Place einen Pulli kaufen. Kaschmir, wenn ich schon hier im Lande des Kaschmirs bin. Und dann ein schnelles indisches Essen. Morgen geht es weiter. Und dann habe ich hoffentlich wieder richtig ausgeschlafen.