10.12.2013, Indien

5. Tag

Gestern abend versuchten wir unbedingt mit dem ersten und einzigen „Women only“-Cab-Unternehmen einen Termin zu machen. Wir hätten auch ein Taxi bei denen gebucht. Aber dieses junge Unternehmen mit bisher nur 10 Autos und 13 Fahrerinnen ist ein Riesenerfolg und sie waren“ fully booked out“ für die nächsten fünf Tage... Gebucht werden können sie nur von Frauen, und Frauen fühlen sich einfach sicherer mit einer weiblichen Fahrerin als mit einem fremden männlichen Fahrer. Tatsache für uns: wir haben die Taxifahrerinnen nicht zu Gesicht bekommen, wir sind kein einziges Mal mit einem solchen Taxi in Delhi gefahren. Aber- es soll sie wirklich geben!!

Am heutigen Morgen sind wir erfolgreicher. Wir hatten eine Verabredung mit der leitenden Polizeikommissarin in der Special Police Unit for Women and Children Suman Nalwa. Erst mal „unter drei“, also nur für ein Hintergrundgespräch. Ihr Boss von den Police Headquarters musste noch zustimmen. Aber erst heute Nachmittag. Bei ihr arbeiten 55 Frauen. Zu wenige, für all die Fälle, ca 65 am Tag, die angezeigt werden. Aber immerhin ein erster Schritt. Insgesamt arbeiten sieben Prozent Frauen bei der indischen Polizei. Auch das sollte sich ändern, meint sie. Seit der Vergewaltigung letztes Jahr hat sich das Denken der Menschen, das Bewusstsein dramatisch verändert. Aus ihrer Sicht ist dann viel „richtig gelaufen“. Nicht nur, dass sich mehr Frauen trauen, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Auch die Polizei geht jetzt, seit dem neuen Gesetz dieses Jahres, anders mit Anzeigen, und vor allem mit den Frauen um. Es wird erst mal nur ihnen zugehört. Es wird nicht kommentiert oder gar angezweifelt, was die Frauen erzählen. Sollte dann doch mal ein Polizist agieren wie früher, kann die Frau ihn anzeigen. Auch das ist neu. Die Polizeichefin ist dankbar, dass über diese Vergewaltigung der Studentin so viel berichtet wurde. Nur so war dieser Wandel möglich.

Aber neben den Vergewaltigungen beschäftigen sie auch noch die Mitgift-Fälle. Mitgift zu verlangen ist zwar verboten und ein Straftatbestand, aber ein Geschenk ist immer erlaubt. Nur- wo ist die Grenze? Erstaunlicherweise kommen auch gerade die gut ausgebildeten Frauen aus der Mittel- und Oberschicht zur Polizei und berichten, daß die Väter an den Mann und dessen Familie horrende Beträge an Mitgift bezahlt haben. Nur- wie ist das zu beweisen, dass es gefordert wurde und kein Geschenk ist?

Wichtig ist den Polizeibeamtinnen, dass sie schon früh in den Schulen den Mädchen Selbstverteidigung beibringen... Dass die Gesetze sich ändern, dass die Frauen unterstützt werden, der Ausbildungsabstand zwischen Jungen und Mädchen geschlossen wird, dass Frauen arbeiten und eigenes Geld verdienen und dass Mädchen und Jungen gemeinsam erzogen werden. Damit sich Jungen sozialisieren in der Umgebung von Mädchen und später Frauen. Schließlich hat die Polizei sogenannte „helplines“ für Frauen eingerichtet, die seit der Vergewaltigung der Studentin dreimal so intensiv genutzt wird wie zuvor. Wir verabreden uns für den Nachmittag mit der Polizeikommissarin und werden im Präsidium bei ihrem Chef so tun, als würden wir uns gerade erst kennenlernen. Sie kann uns vertrauen- und wir tun das sowieso.

Von meinem Dreh im Jahre 1992 für ML Mona Lisa ist mir noch lebhaft in Erinnerung wie hart Frauen auf den Baustellen gearbeitet haben. Wie sie die Babys und Kleinkinder unter Plastikzelte legten. Oft unbehütet, und weinend alleine. Wie schwer die Zementschalen, die Ziegelsteinberge auf den Köpfen der Frauen wogen....ich wollte wissen, ob sich da etwas geändert hat. Wir suchen in der Stadt nach Baustellen. Finden welche in einem ziemlich exklusiven Wohnviertel. Rund fünfzig Männer- zwei Frauen. Es gelingt uns, die beiden zu uns zu locken: Sanju, 30 Jahre, und Suman, 25 Jahre. Beide arbeiten hier zusammen mit den Ehemännern als Zementmixerinnen und Ziegelsteinträgerinnen. „Labourwork“ nennen sie es. Für 225 Rupies am Tag, 30 Tage im Monat, sechs bis sieben Monate , von acht bis acht, an einem Stück. Dann gehen sie mit 563 Euro pro Frau wieder nach Hause zu den Kindern, der Familie. Sie leben weit entfernt von der Hauptstadt, in Zentral-Indien. Oder auch im Süden in Tamil Nadu oder Uttar Pradesh. Aber mit dem Geld können sie sich und ihre Familien wieder ein paar Monate lang ernähren. Da ist die Zeit im Plastikzelt, das der sogenannte Kontakter ihnen als Wohnplatz zur Verfügung stellt, wieder vergessen. Mir fällt auf, dass diese hart arbeitenden Frauen trotz ihres Jobs lackierte Fingernägel haben. Allerdings ein wenig abgeschrabbt und zerbrochen. Auch ihre Fußnägel haben sie in den Flipflops lackiert und einige Zehen mit Goldringen geschmückt. Nach fünfzehn Minuten mit uns werden sie unruhig. Sie müssen wieder auf die Baustelle. Sonst kommt der Chef und schimpft. Die fünfzig Männer haben die ganze Zeit total erstaunt zugesehen. Und nicht bemerkt, dass wir jeder von ihnen 1000 Rupies ( 12 Euro) zugesteckt haben...Es ist den männlichen Gesichtern direkt abzulesen, dass sie einfach nicht verstehen, warum wir mit diesen Frauen reden- und nicht mit ihnen.

Ein wenig Zeit für eye-shopping: Bindu zeigt uns einen Markt, auf dem die Waren aus allen 28 Bundesländern Indiens angeboten werden. Uns gehen die Augen über. Ich finde vier hellblaue Keramik-Türknöpfe, und später mit Bindu und Christian einen wunderbaren Kelim. Wir handeln ihn auf umgerechnet 50 Euro herunter, er wird flugfertig verpackt, und ich habe sowieso immer eine Tasche für eventuelle Teppichkäufe dabei. Aber dabei bleibt es nicht. Christian kauft sich noch einen Indigoschal, und ich schlage bei einem unglaublich sanften, leichten Paschmina-Tuch zu. Glücklich steigen wir hinunter in die Metro. Das ist ein besonderes Thema : denn vor zehn Jahren bauten die Inder ihre U-Bahn. Mit schicken Waggons, tollen Bahnhöfen, alles picksauber, ganz ungewöhnlich zu dem was man auf den Straßen erlebt. Spucken ist verboten, Abfälle werden wohl sofort aufgesammelt. Von wem, habe ich nicht gesehen. Aber das Außergewöhnlichste ist: es gibt Waggons, die nur für Frauen sind. „Women only“, steht auf dem Bahnsteig. Und sollte sich mal ein Mann verirren, wird er sofort vom Personal herausgebeten. Geschuldet ist das der schlimmen Verhaltensweise von indischen Männern. Sie lieben es in Zügen, Bussen oder U-Bahnen die Frauen zu betatschen, sexuell anzumachen und herauszufordern. In der Metro geht das jetzt nicht mehr.

Um 15.30 Uhr haben wir den Termin mit dem Polizeipräsidenten. Erstaunlich, dass wir ohne Kontrollen in das Gebäude kommen. Wo wir vor unserem Hotel jedes Mal alles durch den Scan laufen lassen müssen. Seit Mumbai und der Terrorakte dort. Erst sitzen wir wieder in einem typischen indischen Büro. Eng, vollgestellt mit Schreibtischen, auf denen sich Papierberge stapeln. Ich frage mich, wie jemals diese Akten abgearbeitet werden können? Dann geht es ins Präsidentenbüro. Die Polizeikommissarin vom Vormittag wird weder vorgestellt, noch kommt sie zu Wort. Ich erkläre kurz meinen Beruf, mein Anliegen, das Buchprojekt und die Artikel für die größte deutsche Wochenzeitung. Dann legt er los. Ist kaum noch zu stoppen. Ergebnis: durch die schlimme Vergewaltigung der Studentin ändert sich die Polizei. Die ja immerhin bereits nach 15 Tagen die Täter gefasst hatte. Das Gerichts-Verfahren war schnell und dauerte „nur“ neun Monate. Seitdem gibt es auch ein neues Gesetz und die Polizei stützt sich erst mal ausschließlich auf die Aussagen der Frau. Da über 95 Prozent aller Fälle im Bekannten- und Nachbarkreis oder gar in der Familie passieren, beginnt dann dort die Ermittlung. Die jetzt schneller zu einem Ergebnis führt. Unabhängig von weiterhin lang dauernden Gerichtsverfahren. Zwischendurch unterschreibt der Polizeipräsident viele Papiere, es gab ja Wahlen, die noch amtierende Regierung will zu vielen Fällen Zahlen haben....und dann sind wir wieder draußen. Aber ich habe immerhin einen Berg an aktuellen Papierinformationen für den Artikel und das Buch erhalten. Nicht so schlecht....

Der Tag aber ist noch nicht zu Ende: wir sind in ständigem Telefonkontakt mit Shakti Vahini, einer NGO die Opfer von Menschenhandel befreit und vor allem die Täter, die Menschenhändler , mit Fallen und Tricks vor Gericht und hinter Gittern bringt. Heute Abend sind wieder zwei junge Mädchen befreit worden. Zusammen mit einer Polizei-Inspektorin der Human Trafficking Unit. Aber nicht nur sind die Mädchen befreit, sondern die Händler ebenfalls festgenommen worden. Ein Ehepaar mit Kind, er Ingenieur, der das 15jährige Mädchen für 90 000 Rupies, rund 1 100 Euro, verkaufen wollte. Sarifan, so heißt die junge West-Bengalin, wurde mit Hormonspritzen und Bier nicht nur älter, sondern weiblicher gemacht. Damit die Freier nicht auf die Idee kommen, sie könnte zu jung sein. Die andere heißt Muktidas, ist 23 Jahre alt, und wurde mit dem Versprechen auf eine Arbeit als Hausmädchen von den Eltern weggelockt. Beide Mädchen sagen, sie können wieder zu den Eltern zurück. Vorausgesetzt, Shakti Vahini erzählt nicht, dass sie in einem Bordell gearbeitet haben. Jetzt beginnt aber erst mal ein langer Weg. Sie fahren mit der Polizeikommissarin zurück nach Kalkutta. Dort machen sie ihre Aussagen. Ein Prozess kann dann aber fünf bis sechs Jahre dauern. In dieser Zeit müssen sie immer wieder vor Gericht erscheinen. Die Hilfsorganisation übernimmt die Reisekosten, sonst wäre das gar nicht umsetzbar. Der Boss von Shakti Vahini will gleich wieder aufbrechen. Die nächste Razzía zusammen mit der Polizei im Rotlichtviertel Delhi steht an. „Jeder Tag ist eine Mission für uns- Du musst eine Leidenschaft haben, ein Mädchen zu retten“. Sonst geht einem wohl irgendwann die Luft bei diesen hektischen Razzien, Verhaftungen und dem sich Kümmern um die jungen Mädchen. Erfreulicherweise räumt die Bengalische Botschaft ihre Gästezimmer in solchen Fällen. Dort sind sie erst mal gut und sicher aufgehoben. Und haben eine ruhige ungestörte Nacht vor sich.

Das werde ich wohl nicht so echt haben...viel zu viel geht mir durch den Kopf. Erst die Geschichten für die BamS, dann das Buch. Aber vor allem die Schicksale der Frauen in diesem Land. Wie ist es möglich dass Männer so mit Frauen umgehen? Ich fürchte nur, das wird sich nicht ändern. Nicht so schnell...aber was sagte der Mann von Shakti Vahini: Du musst eine Leidenschaft haben. Wohl wahr....ich glaube, die hab ich.