19.09.2015, Fast unlösbar: die Probleme in den 1278 Settlements

Tagebuch 2 aus dem Libanon

Es ist zwar nur ein kleines Übel im Vergleich zu den unglaublichen hoffnungslosen Geschichten, die ich heute schon gehört habe: aber meine Knie spüre ich kaum mehr. Stundenlang bin ich in den Unterkünften der Frauen und ihrer Kinder im Yogasitz gesessen. Habe ihnen zugehört, zwischendurch den freundlich angebotenen Tee getrunken. Wie es in diesen auch Zelte genannten Behausungen im Winter sein wird, mag ich mir gar nicht vorstellen. Denn in der Bekaa-Ebene schneit es ab November, da liegt Meterhoch der Schnee und es weht tagelang ein eisiger Wind. Gar nicht dran zu denken, was bei Tauwetter die Wassermassen mit den Matratzen und Decken anrichten...

Die 27jährige Amira bittet uns freundlich zu sich herein, sie lebt in dieser ITS mit ihren drei Kindern und ihrem Mann, daneben wohnt gleich ihre 50jährige Mutter. Vor vier Jahren sind sie aus Al Bab bei Aleppo geflohen, die Rebellen und die syrische Armee haben sich ständig gegenseitig beschossen. Überall fielen Bomben, auch noch auf ihrer Flucht, vorbei an den vielen checkpoints, erzählt sie mir. Der Bus blieb irgendwo auf der Strecke stehen, dann mussten sie zu Fuß los. Noch ohne die Kinder, die sind alle drei erst im Libanon zur Welt gekommen. Ihre Zelthütte mit dem harten Betonfußboden haben sie sich inzwischen ein wenig wohnlich eingerichtet. Mit einem Fernseher, der syrisches Programm empfängt. Einem kleinen Holz-Ofen, der aber im Winter nicht viel ausrichten kann. Vor allem haben sie immer große Sorge , dass das Dach unter den Schneemaßen wieder herunter bricht. Wie im letzten Jahr. Da ist an schlafen nicht zu denken..."Wir haben große Angst gehabt, dass uns nach der überstandenen Flucht jetzt hier die Schneemaßen begraben würden", schildert Amira und weist immer wieder mit ihrer Hand zur hölzernen Decke mit den Pappeinlagen. Auch seien die Kinder im Winter immer krank, aber das wenige Geld, das der Mann als Kaffeeverkäufer verdient, reicht nicht für den Arzt und die nötigen Medikamente. Es sei alles so schwierig, so hoffnungslos. Vor allem auch, weil ihre drei Kinder nicht richtig registriert seien. "Es gibt keinen Beweis, dass sie tatsächlich meine Kinder sind", erzählt die Mutter verzweifelt. Denn sie besitzt nur die Geburtsurkunden aus dem Krankenhaus. Die gelten nicht zur Registrierung.
Dazu die ständige Sorge, ob sie die monatlichen 200 Dollar Miete an den Grundbesitzer zusammen bringen. "Wenn er sein Geld nicht bekommt, müssen wir hier raus", erzählt sie ziemlich verzweifelt.

Ihre Mutter arbeitet bei dem Grundbesitzer auf dem Feld, für 6000 libanesische Pfund am Tag. Das sind 4 Euro. Aber sie muss ja auch noch für ihre eigene Behausung Miete bezahlen. Da kann sie ihre Tochter und deren Familie nicht auch noch unterstützen. Amira bietet uns noch ein Glas Tee an und kommt ins Erzählen. Dass in Syrien Frauen Rechte hatten, dass Gewalt gegen Frauen verboten war. Aber jetzt hier in dieser ITS schlagen sie die Männer. Weil sie nicht wissen wohin mit ihrem Frust, ihrer Depression. Manchmal flüchtet sie mit ihren drei Kindern zur Mutter. Die wiederum den Bruder bei sich untergebracht hat. Es bedrückt sie aber auch, dass so viele Mädchen ganz früh verheiratet werden, natürlich gegen Geld. Die 12- und 13jährigen Mädchen müssen dann schnell erwachsen werden, den Haushalt führen und Kinder gebären. Wenn kein Geld für das Krankenhaus da ist, notfalls auch im Zelt. Wie Amira bei ihrem letzten, dem dritten Kind. Im ganzen Settlement herrsche Gewalt, erzählt sie mir. Ältere Jungen vergreifen sich an den jüngeren, Mädchen werden vergewaltigt, erzählen es aber zuhause nicht , aus Scham - und sind dann plötzlich schwanger. Niemand passe auf, sie trauen sich nicht mehr untereinander, die Syrer in diesem Flüchtlingslager. Eine bittere Bilanz. Amira hängt nicht einmal mehr ihre Wäsche draußen auf einer Leine auf. Dort würde sie gestohlen. Jetzt trocknet sie die Kleidung ihrer Familie am Vorplatz vor ihrer Türe. Sie wünscht sich nur noch eines: wieder zurück nach Syrien. Nicht mehr Flüchtling sein. Nicht mehr auf Almosen angewiesen sein müssen. Damit sie das Lächeln in den Gesichtern ihrer Kinder erhalten kann.

Nächste ITS, nächste Station. Wieder diese windigen, wackligen settlements, Hütten, Zelte, wie auch immer man sie bezeichnen mag. Wo sich die Flüchtlinge aus dem syrischen Krieg mit wenigen Mitteln eine halbwegs heimelige Atmosphäre versuchen zu schaffen. Die 35jährige Esme hat acht Kinder- und einen Mann. Aber der arbeitet nicht, sondern er ist, so sagt sie auf arabisch: "Der Fahrer auf der Matratze". Will heißen: da liegt er und macht nichts. Vor zwei Jahren sind sie alle zusammen geflohen, auch aus Al Bab. Ihr jüngstes Kind auf dem Rücken, drei Monate alt. Ihr Ältester arbeitet wenigstens, für 15 000 libanesische Pfund die Woche, rund zehn Euro. Die Tochter hat einen Teilzeitjob, der mit 60 000 libanesischen Pfund gut bezahlt wird. Das hilft ihr und den Kindern. Aber auch der kranken Schwiegermutter, die mit ihnen allen in ihrer Behausung lebt. Mit dem Geld kann sie manchmal beim Shawish einkaufen, dass ist der Verantwortliche für das Lager. Er betreibt einen kleinen Lebensmittelladen, kauft in den anderen libanesischen Geschäften die Waren zu reduzierten Preisen ein. Kurz bevor sie weggeworfen zu werden. Von allen Familien führt er Listen ihrer Schulden. Die er aber nie eintreibt. Bei manchen summiert sich der Betrag auf 600 000 libanesische Pfund- rund 400 Euro. Die werden sie nie abzahlen können. Der Besitzer dieses Ladens ist auch hier der Grundbesitzer, Landlord wie sie ihn nennen. Der kassiert die Miete und der Shawish bekommt ein festes Gehalt. So weit- so gut.

Aber bei allen Frauen, auch bei der 37jährigen Aischa in einer anderen ITS, spüre ich die Verzweiflung, diese Hoffnungslosigkeit. Ihr Mann ist vor zwei Jahren , kurz nach der Flucht, an einem Herzinfarkt hier gestorben. Seitdem trägt sie schwarz, seitdem weiß sie nicht wirklich, warum sie jeden Morgen aufsteht. Sie lebt, so sagt sie, vom guten Willen der Menschen im Libanon. Von der UN, bei der sie registriert ist als Flüchtling, von 13 Dollar für sich und 26 Dollar für ihre beiden Kinder. Im Monat. Wenn in ihrem Settlement eine UNICEF-Schule gebaut wird, dann will sie die ältere fünfjährige Tochter auch hinschicken. Damit sie lesen und schreiben lernt. Und vielleicht einmal etwas aus ihrem Leben machen kann.
Kleine Lichtblicke sind die Treffen im größten Zelt im Settlement, da bügeln die Frauen die Hemden und Hosen ihrer Männer, da stützen sie sich gegenseitig. In dieser ITS gibt es, so sagen sie , einen großen Zusammenhalt. Sie helfen sich aus, wenn eine mal nichts oder zu wenig zu essen hat. Sie lachen auch, die Kinder spielen Videos auf ihren mobilen Telefonen ab und tanzen dazu. Glückliche Momente in einem sonst nicht gerade beglückenden Dasein.

Es ist Mittagszeit. Zu heiß für die Arbeit auf den umliegenden Feldern. Nur ein paar ältere Jungen treiben Ziegen zusammen, melken sie für den Besitzer. Die Settlements gehen häufig über in den Stadtbereich von Zahle´, ich sehe einen Vater mit seinem Sohn die Mülleimer durchwühlen und in einem Einkaufswagen aus einem Supermarkt die „Schätze" davon fahren. Das kann alles wieder zu Geld gemacht werden, die Familie wieder ein, zwei Tage ernähren. Sie wollen nicht fotografiert werden, sie schämen sich, die beiden.

Die Geschichten der Frauen und Kinder gleichen sich, und doch trägt jede an ihrem eigenen Schicksal ganz alleine. Wie die 70jährige Chambi, die die sechs Kinder ihres Sohnes versorgt. Die Mutter hat wieder geheiratet und ihr die Kinder einfach zurück gelassen. Dazu lebt mit ihr in diesem Zelt die 28jährige Schwiegertochter Feriar mit fünf Kindern. Insgesamt 13 Menschen. Die Männer? Nicht da, weg, bei der Arbeit? Ich bekomme keine richtige Antwort. Ob ich nicht eines der Kinder mit nach Deutschland nehmen möchte, fragt die Großmutter. Sie hat das zerfurchte Gesicht einer Hundertjährigen, scheint hoffnungslos und verzweifelt ob der großen Aufgabe diese Kinder zu versorgen. Deutschland, Alemania, das ist für die Kinder überhaupt ein Zauberwort. Da kriegen sie strahlende Augen, hängen sich an mich. Es zerreißt einem das Herz. Immer wieder höre ich, dass Witwen Heiratsangebote von Männern bekommen- aber immer unter der Bedingung, die Kinder aus der ersten Ehe zurückzulassen. Die werden von den neuen Männern nicht akzeptiert. Auch Aischa hat so ein Angebot bekommen. Aber ihre Kinder zurückzulassen- das käme ihr nicht in den Sinn.
Was ich von allen Frauen auch höre: sie glauben nicht an einem schnellen und baldigen Frieden in ihrer Heimat. Sie richten sich auf eine lange Flüchtlingszeit ein. Sehen, wenn sie es denn eines haben, mit einem alten Fernsehgerät die syrischen Programme und sind verzweifelt vor Heimweh und Kummer. Immer wieder höre ich, dass UNICEF eine Hilfe ist, dass da Mitarbeiter vorbeikommen, ein Lebensmittelpaket bringen, Kleidung verteilen. In vielen ITSen hängen die Plakate der Kinderhilfsorganisation. Aber wie wirklich helfen bei dieser immensen Aufgabe?

Das wird mir Berta Travieso, die Team-Chefin von UNICEF-Zahle´ noch ausführlich erzählen. Morgen, auf der Fahrt nach Baalbek.