03.09.2015, Die Jesidinnen in den Lagern: schwerst traumatisiert

Tagebuch 2 aus Diyarbakir

Wir lassen uns nieder auf den dünnen Schaumstoffmatten, die nachts als Matratzen dienen. Seve, die Jesidin, die uns freundlich hereingebeten hat,  ist  42 Jahre alt. Stolz  zeigt sie mir ihre acht Kinder: die erste Tochter ist 18 Jahre alt, das jüngste Mädchen gerade mal 11 Monate. Sie hat sie auf der Flucht geboren. Auf der Flucht vor den ISIS-Terroristen, als die im August 2014 von Syrien her ihre Heimatstadt Singal-Digor überfallen haben.

Jetzt lebt sie mir ihren Kindern , ihrer Schwägerin, der Schwiegermutter in einem 15-Quadratmeter-Zelt der türkischen Armee. Seit über einem Jahr. Es ist heiß, 39 Grad draußen im Gelände, im Zelt selbst läuft der Ventilator. Aber er wirbelt auch nur die Luft durcheinander und verschafft vermeintliche Kühlung.

Wir  ziehen die Schuhe vor dem Zelt aus. Fragen nach dem täglichen Leben hier, aber auch bald nach ihrer Fluchtgeschichte.  Es sprudelt nur so aus ihr heraus, wenn sie temperamentvoll von den Ereignissen  vor einem Jahr erzählt. Wie sie alle, 20 Menschen und sie hochschwanger, 25 Stunden zu Fuß geflohen sind, nur weg, Richtung Westen. Von der nordirakischen grenze hinüber nach Syrien.  Im Kopf immer noch die grausamen Bilder der geköpften Nachbarn, der getöteten Kinder. Gekocht haben sie erzählt sie , und manche Jesiden gezwungen, diese „Suppe“ zu essen. 

Was mit den Mädchen passiert sei, übergeht sie. Das will sie keinesfalls erzählen. Ich habe schon von Mukaddes erfahren, dass die Jesiden diese Themen  überhaupt nicht ansprechen wollen.  Auf der Flucht dann   haben Seve und ihren Kindern und Verwandten  kurdische Nachbarn zwei Autos zur Verfügung gestellt. Sie schaffen es bis zur türkischen Grenze. Aber erst nach zehn Stunden dürfen sie über die Grenze. Die öffnete sich plötzlich und wie ein Wunder. Von türkischen Grenzbeamten- keine Spur. Seve und ihre Familie landen  im Langer von Fidanlik , 30 Minuten südlich von Diyarbakir entfernt. Erst mal: in Sicherheit.

7000 jesidische Flüchltinge waren es zu Beginn, erzählt die Koodinatorin des Camps, Muzeyyen Anik Aydin. Heute sind es noch 1 600 Frauen, und genauso viele Kinder und wenige übrig gebliebene Männer. Denn einige sind wieder zurück in den Irak. Seves Ehemann, so sagt sie, sei auch noch dort Mehr weiß sie aber nicht.

Neben all den schrecklichen Geschichten kommt aber auch immer wieder die Frage an mich: „Warum lässt uns Europa nicht rein? Warum die Syrer?“ Denn die jesidischen Familien trauen niemandem mehr aus dem muslimischen Umfeld. Die muslimischen Kurden im Nord-Irak hätten sie alle verraten, bewusst oft auf den falschen Fluchtweg geschickt,  der sie geradewegs in die Arme von ISIS-Terroristen geführt habe. Sie fühlen sich wegen ihrer Religion verfolgt. Wollen nichts wie weg. Das sagen sie mir immer wieder.

Bei Seve fehlt eine Tochter, in den Nachbarzelten auch. „Sie sind wieder zurück in den Irak“, wird mir erklärt. Ich mag es nicht glauben. Frage nach dem warum? Sie seien krank im Kopf - erfahre ich später. Die ISIS-Terroristen hätten ihnen wohl Drogen gegeben, die sie vollkommen verrückt gemacht haben. Mehr sagen die Frauen nicht. Da ist großes Schweigen....

Im Zelt gegenüber lebt die 30jährige Sari. Ihre  11jährige Tochter Eyda hat uns jetzt schon immer zugehört  und dann zu sich hinüber eingeladen. Die Frauen sitzen auf dem aus Holzbrettern gezimmerten Bett und am Boden, ein Baby. Als ich mich erkundige, ob ihr Mann auch zurück in den Irak sei, brechen alle in bittere Tränen aus. Der Vater war Soldat gewesen und auf der Flucht von den ISIS-Terroristen getötet worden. Aber nicht nur er, sondern auch der jüngste Sohn und der Zwillingsbruder der 16jährigen Viyan. Wie sie, wie die anderen Frauen, davongekommen seien? Das wissen sie bis heute nicht mehr. Geschüttelt vom Grauen der Erlebnisse umschlingt Eydan immer wieder ihre ebenso verzweifelt weinende Mutter. Es ist kaum auszuhalten, dieses Drama. Und immer wieder der schluchzende Satz: “Wir wissen nicht, was wir tun sollen, der Winter kommt, wie geht es für uns weiter?“. Sari erzählt von gekidnappten Mädchen. So präzise, als hätte es eine ihrer Töchter getroffen. Sie erzählt, dass diese Mädchen im Internet verkauft worden seien. Und bricht wieder schluchzend zusammen. Wie können Menschen so viel Leid ertragen?

Wir gehen mit den unverfänglichen Trostsprüchen, dass wir darüber berichten werden, dass wir aber im Augenblick auch nicht helfen können. Und ich nehme mir vor, am Ende meiner Recherchen diese Frauen noch einmal zu besuchen.

Jetzt erst treffen wir Sukran Nizrak, die mit den Frauen näht und strickt, malt und sie sonst ein wenig ablenkt von ihrem Unglück und den langen Tagen im Camp. Sie erzählt, dass es nicht leicht war, überhaupt an die Frauen heranzukommen. Am Anfang waren immer nur die jesidischen Männer draußen, saßen unter den Bäumen und auf den Wegen im Camp. Erst mit der Idee des Frauenhauses hat sich etwas geändert. Sie hofft, dass viele Familien mit der Zeit ihre Meinung ändern und nicht weg wollen nach Europa, sondern hier im Osten  der Türkei ihre Zukunft sehen. Die Kurden tun viel für sie,  die Stadtverwaltungen in Mardin und Diyarbakir schicken regelmäßig Mitarbeiter in das Camp, um zu helfen.

Feray, unsere Übersetzerin hat noch zwei älteren Frauen im Camp Milch versprochen. Wir bringen sie ganz zum Schluss vorbei. Die beiden älteren haben sich aus Brettern ein luftiges Schutzhaus gegenüber dem eigentlichen Zelt gebaut. Mit Hochbetten –dann ist einfach mehr Durchzug. Inzwischen sind es draußen 42 Grad. Die 6ojährige  Rezan sitzt am Boden, strickt und häkelt Bettschuhe oder Waschlappen. Ganz in Weiß gehüllt, erzählt sie Unglaubliches. Dass ihre  zwei Söhne schon längst in Deutschland seien, aber sich nicht um sie kümmern und ihr hier nicht helfen. Ihre Freundin und ehemalige Nachbarin Xoxe  hat einen Sohn in den Vereinigten Staaten. Auch der meldet sich nicht, schickt kein Geld, geschweige denn dass er die Mutter unterstützt. Kaum zu glauben, denn die streng gläubigen Jesiden gelten als sehr hilfsbereit. Die beiden Frauen scheinen aber mit vielem abgeschlossen zu haben. Nichts mehr zu erwarten. Wir gehen deprimiert zu unserem Auto. Da wartet Mansur und bringt uns zurück nach Diyarbakir. Entlang des Tigris, wo Kinder schwimmen oder sich mit Holzstecken wie Ritter bekämpfen. Da scheint für einen Augenblick  die Welt noch in Ordnung. Morgen stehen wir um sechs Uhr auf und fahren an die syrische-türkische Grenze nach Suruc. Da, wo gerade ein Selbstmordattentäter 31 Kurden mit in den Tode gerissen hat. Die Spirale der Gewalt nimmt ihren Anfang.