07.02.2022, Bericht Nr. 3 nach der zweiten Februar-Woche im schönen Jägerwinkel

Liebe Familie, liebe Freundinnen und liebe Freunde,

meine zweite Woche beginnt, und heute Nacht hat es nach dem ersten Regen sanft geschneit. Eine Zauber-Winter-Landschaft rundum, am Wallberg hängen allerdings bis zum Erlenhang dicke Wolken. Schon am Freitag gibt es immer das Anwendungsprogamm für Samstag und Montag. Wieder intensiv Lymphdrainage, der operierte Fuß ist jetzt schon gut abgeschwollen. ( In Bayern geht der Fuß bis zur Hüfte, nicht wundern…) Von einem Therapeuten habe ich viele Übungen empfohlen bekommen damit es voran geht. Er denkt dass man sechs Monate braucht, bis beide Beine wieder gleich stark sind. Ich soll jaaa nicht aufgeben, damit die OP nicht umsonst war.
Anders als in Manhagen sitzt man im gemütlichen Speiseraum mit anderen Patienten zusammen. Eine Bedienung, alle sind hier im feschen Dirndl, hat mich gleich bei meiner Ankunft an einen Zweier-Tisch gebeten. Mit dem Hinweis, die zweite Dame käme immer nur Mittags. Das kam sie dann auch, in schicker, eindeutig edelster Kleidung, im Rollstuhl und mit wunderbaren Ohrringen bestückt. Aber: geredet hat sie nicht viel, wenn nicht sogar: überhaupt nicht. Alle meine Kommunikations-Bemühungen waren umsonst. Warum sie seit Juli(!!) hier im Jägerwinkel ist? Konnte sie nicht beantworten. Die Tochter habe sie hierher gebracht….irgendwann habe ich aufgegeben und nur noch zugesehen, wie die Dame lustlos mit der Gabel auf ihrem sowieso nur halb gefüllten Teller herumstocherte. Tief Luft holen und hinaussehen, auf die Berge und Bäume. Das hilft dann doch. Das einzige was sie mich so alle fünf bis sechs Minuten fragte: “Ist der Herr Wepper noch da?“ Fritz Wepper, der Schauspieler saß schräg gegenüber immer alleine in seinem Rollstuhl beim Essen. Angeblich schon seit letztem Oktober. Er kann immer noch mehr als zwei, drei Schritte gehen. Es geht ihm wohl gar nicht gut.
Ich habe nicht gebeten, von der wenig sprechenden Einzel-Dame weggesetzt zu werden. Aber die leitende Service-Dame hatte wohl Mitleid mit mir und mich an einen Vierer-Tisch „versetzt“. Ein Glücksfall. Zwei Damen, ein Herr, zwei Hüften, ein Herz. So kurz und knapp die medizinische Diagnose. Jeder hat erst mal gleich zu Beginn Name, Krankenbild und Herkunft berichtet…dann war viel Zeit für alle anderen Themen dieser Welt. Er, einst Strafanwalt, konnte so einiges von seinen spannendsten Fällen erzählen. Die Dame gegenüber, einst Sportlehrerin, lebt mit ihrem 14 Jahre jüngeren ehemaligen Surf-Schüler seit nun 40 Jahren am Bodensee glücklich zusammen. Sachen gibt es…und die zweite Dame berichtete von ihrer interessanten Tätigkeit als Mode-Direktrice. Es war nie langweilig. Leider packte der Jurist schon am Dienstag seinen Rollator, und die beiden Ladies ziehen am Samstag aus. Mal sehen, was dann kommt.

Nachmittags um 16 Uhr gibt es immer Kaffee und Kuchen. Da ich mit meinen Krücken weder die Kaffee-Tasse noch den Kuchenteller tragen konnte, ist ein netter älterer Herr hilfreich aufgesprungen um mich zu versorgen. Auch da wieder gute Gespräche. Er, ein Steuerberater, mit einer frisch operierten Stenose im Rückenmark. Dann daneben ein Physiker, der sehr gebückt und leidend mit seinem Rollator durch das Haus fährt. Er ist, wie er später erzählt, von einer Wendeltreppe in seinem Haus gefallen und hat sich den Halswirbel gebrochen. Gut operiert, ist er voller Hoffnung, dass er ohne Rollator wieder nach Hause kommt. Später stellt sich dann noch heraus, dass er Lynen heißt, wie sein Onkel Fitzi Lynen, ein berühmter Wissenschaftler und einst Jugend-Freund meiner Mutter.
Aber es gibt auch weniger erfreuliche Zeitgenossen. Eine Dame, Ärztin und vehemente Impfgegnerin, verscheuchte einen Mitpatienten von ihrem Tisch, weil er doch tatsächlich äußerte, dass die Ungeimpften in den Intensiv-Stationen nicht mehr behandelt werden sollten. Aufschrei der Dame: “Sie wünschen mir wohl den Tod?“ Das war das Ende der Tisch-Gemeinschaft. Oder eine andere Dame, die nie einen noch so freundlichen Gruß in den Gängen oder im Speisesaal erwidert hat. Ein wenig genervt habe ich dann mal gefragt: “Möchten Sie nicht gegrüßt werden?“ Und, ich war sprachlos, sie antwortete: “Genau“.
In der Mitte der Woche wage ich einen Ausflug. Mit dem Taxi hinüber nach Rottach-Egern, in meine alte Heimat. Da wir alle tagsüber nur Trainingsanzüge tragen, wollte ich mir einen neuen zulegen. Ein bißchen modische Abwechslung darf schon sein. Danach auf den Krücken aus der Hauptstrasse in die Leo-Slezakstrasse in ein empfohlenes Cafe. Apfel-Streusel mit Sahne, Luxus pur.
Am meisten aber bedrückt mich das Schicksal einer etwa 32jährigen jungen und sehr hübschen Frau. Bei ihr ist wohl nach der Geburt eine Hüftfehlstellung übersehen worden. Damit wuchs sie auf, damit absolvierte sie Schule und Studium. Heute arbeitet sie als Grundschullehrerin, festangestellt und unbefristet. Denn jetzt hat sie sich entschlossen ihre Hüftfehlstellung „reparieren“ zu lassen. Vor einem halben Jahr ist auf der einen Seite der Oberschenkel durchtrennt und in die Hüftpfanne neu eingesetzt worden. Jetzt auf der anderen Seite. Sie geht an den Krücken noch so krumm und schief, das einem ganz bang wird. Aber: immer ein Lächeln im Gesicht, immer die Aussage: “Es wird schon werden“. In ganzen Jägerwinkel ist niemand, der so fleißig und intensiv im großen Geräteraum trainiert wie sie. Ich wünsche ihr von Herzen viel Glück und eine komplette Genesung.
So, das war Woche Numero zwei….am Sonntag wieder Besuch bei der Freundin Christl in Heigenkam, und dann auf in die dritte und letzte Woche. Mit Schwung, und Mut und guter Laune. Sonst wird das nix…..ich melde mich dann ganz am Ende und berichte von meinen kleinen „ Schritten“ nach vorne.