12.05.2011, Laudatio auf Preisträger "Mein Befundordner"

Laudatio „Mein Befundordner“ Soma e.V.
Maria von Welser/  12.Mai 2011 in Berlin

Ein Thema das viel Ablehnung erzeugt


Mein Befundordner- das klingt so nach Büro. Nach Ordnung. Und alles andere als nach Drama.
Der Projekttitel ist ganz sicherlich absichtlich so gewählt. Weil das Thema: anorektale Fehlbildungen
eher Ablehnung erzeugt. Ganz tief in uns. Der Anus ist
nicht unbedingt ein Thema, mit dem wir uns gerne befassen. Schon gar nicht, wenn das was schief läuft.
Wer erinnert sich nicht an seine leicht geröteten Wangen, wenn er denn schon einmal Zäpfchen in der Apotheke gegen Hämorriden erstehen musste, oder?

Jetzt also der Preis für den Befundordner. Ein Befundordner für 14 bis 21jährige Jugendliche , die unter anorektalen Fehlbildungen leiden.
Was ist das? Es sind angeborene Fehlbildungen des Enddarmbereichs, die dann auch noch häufig mit Begleitfehlbildungen verbunden sind. Trotz der nötigen Korrektur-Operationen leben die Patienten mit den Folgen wie Inkontinenz, oder Funktionsstörungen im Uro-Genitalsystem. Ein Leben lang. Dazu benötigen zwei Drittel von Ihnen ebenso ihr Leben lang Hilfsmittel. Schon um eine gewissen „soziale Kontinenz“ zu erhalten.

Jährlich kommen rund 250 Kinder mit diesen Fehlbildungen zur Welt

Wir können es uns, da bin ich mir sicher, gar nicht wirklich vorstellen, was diese Fehlbildung und Erkrankung für Kinder und Jugendliche bedeutet.
Sicher, die anorektale Fehlbildung ist eine der seltenen Erkrankungen. Darum heute auch der Preis. Aber: es werden jährlich etwa 200 bis  260 Kinder mit dieser Fehlbildung im Enddarmbereich geboren. Oft dazu auch noch mit anderen Begleitfehlbildungen, am Herzen, an der Speiseröhre, am Skelett oder an den Genitalien.  Es ist für die Betroffenen, die Kinder und später Erwachsenen, aber auch für die Familie, die Angehörigen eine unglaubliche Belastung.

Lebenslange Nachsorge und Begleitung sind existentiell notwendig. Und wer macht das, außer den behandelnden Ärzte. Die aber auch nicht täglich um den Patienten herum sein können…natürlich die Eltern. Und meistens: die Mütter. Sie sind die wichtigste Kommunikationsbrücke – zwischen dem kleinen, oft verzweifelten Patienten und den Ärzten und Schwestern. Schon im ersten Lebensjahr müssen die wichtigsten Korrektur-Operationen erfolgen. Trotzdem sind die Patienten dann nicht geheilt und sicher. Es kommt zu spontanen Entleerungen, oft zur Stuhlinkontinenz.

Wie kann so ein Kind in die Schule gehen? Gelassen und ungestört lernen? Wir alle wissen: Kinder können grausam sein. Wenn da eine/ einer sitzt, mit Windeln und riecht?
Wer tröstet zu Hause, fängt auf?
Da es sich um eine angeborene Fehlbildung handelt, sind zu Beginn vor allem die Kinderchirurgen und die Urologen die Ansprechpartner der Eltern. Schwerpunktzentren wie bei anderen Krankheiten gibt es kaum. Nur 70 Kliniken in Deutschland operieren diese seltenen Fehlbildungen.

Überstehen die Kinder dann die ersten Jahre und kommen in die Pubertät, brauchen sie zu den Eltern dringend weiterhin Ärzte, Schwestern, Unterstützung. Es wird immer schwieriger. Noch schwieriger. Haben bisher die Eltern die Ärzte und Kliniken ausgewählt, wollen die Jugendlichen jetzt verständlicherweise selbst entscheiden. Wissen aber oft nicht, weil sie keine Erinnerung an die Anfänge haben, kenne oft die  genaue Diagnose nicht ,  wissen  nicht alle erfolgten Operationen ihrer Kleinkinderzeit.

Sollten die Eltern nicht alles gesammelt haben, ist es schwer aufgrund der sich reduzierenden Aufbewahrungsfristen von Patientenakten an alle Daten zu kommen. Alles nachzuvollziehen. Wir wissen: Kliniken schließen, Ärzte gehen in den Ruhestand.
Und hier kommt jetzt  das preisgekrönte Projekt „Mein Befundordner“ ins Spiel. Denn suchen die jungen Erwachsenen dann Ansprechpartner für die Weiterbehandlung, also zum Beispiel einen Proktologen zu Kontinenzfragen, einen Urologen oder Gynäkologen zu Fertilität oder Sexualfunktionen, so ist es unerlässlich, selbst über die eigenen Diagnosen Bescheid zu wissen.

Der Befundordner hilft beim erwachsenwerden

Die Sprache der Medizin zu verstehen, noch dazu  wo sich Fachtermini und Diagnosebezeichnungen im Laufe der Zeit und Jahre verändern. Der Besuch bei einem neuen medizinischen Ansprechpartner verläuft sonst verwirrend, ineffektiv u und sehr oft erschwert das eine erfolgreiche Weiterbehandlung.
Sie merken schon, dass es wichtig ist, gerade bei einer solch dramatischen und seltenen Erkrankung „papiermäßig“ gut aufgestellt zu sein.

Die Selbsthilfeorganisation SoMa E.V. bietet darum Seminare für jugendliche Patienten an. Was geschieht da?
Im „Befundordner-Seminar“, ja, so heißt das dann, wird gemeinsam mit dem jugendlichen Patienten der individuelle persönliche Befund-Ordner erstellet. Die vorliegenden Befunde werden von Fachleuten gesichtet und den Patienten verständlich erläutert. Man sucht gemeinsam nach vorhandenen Lücken in der Diagnostik prüft die bisher erfolgte Nachsorge und ermittelt weiterführende Ansprechpartner.

Das ist aber bei weitem nicht alles. Die jungen Menschen hören in Vorträgen alles zum Grundwissen ihrer Fehlbildung. Informationen über die Hilfsmittel gehören ebenso dazu, wie Einzelgespräche, wo jeder mit seinen ganz eigenen Sorgen und Problemen ankommen kann. Das alles in einem Seminar, und nicht
im oft hektischen Alltag einer Klinik.
Sehr oft ist auch psychologische Hilfe nötig. Wenn einem jungen Patienten die eigene Diagnose in der ganze Konsequenz gar nicht bewusst ist.

Psychologische Hilfe ist dringend nötig

Es ist schon vorgekommen, dass sich erst bei der Sichtung der Befunde ergeben hat, dass die Patientin gar keine Gebärmutter hat. Kinder sind also hier nie möglich.
Insgesamt ist das Ziel des „Befundordner-Seminars“ die Jugendlichen selbstverantwortlich mit ihrer Fehlbildung/ oder auch Behinderung vertraut zu machen und den Übergang in die Erwachsenen-Medizin so zu erleichtern.

Bisher haben drei Jugendgruppen im Alter von 14 bis 23 Jahren an solchen Projekten teilgenommen. Um den Intimbereich der Teilnehmer zu schützen betreuen überwiegend männliche Fachleute die männlichen Teilnehmer, die weiblichen die jungen Frauen.
Hinter all dem steht, Sie ahnen es sicher schon: eine Frau, eine Mutter. Mutter von fünf Kindern, davon ist eines von anorektaler Fehlbildung betroffen.

Nicole Schwarzer ist ihr Name, ehrenamtliche Vorstandsfrau von SoMA e.V. und mit Leidenschaft Fundraiserin. Durch die eigene Familiengeschichte aufgerüttelt, engagiert in Sachen anorektale Fehlbildung. Hat sie  -wie nie ein Außenstehender - begriffen, was geschehen muss. Für die Betroffenen, für die Jugendlichen, damit sie zu recht kommen mit ihrer Fehlbildung.
Aber auch, weil sie weiß, wie sehr das die Familien belasten kann.
Ihr gebührt der Preis. Die Begründung der Jury:
Der Befundordner ist gelebte Hilfe zur Selbsthilfe in Reinstform. Patienten werden ermutigt, eigenständig Verantwortung für ihre Erkrankung und ihre Wohlergeben zu übernehmen. Ein konkretes, logisches, fassbares Projekt ohne großen Ressourcenverbrauch.